Das zweite Medaillon


Dolores hing über dem Küchentisch und hielt sich an einer Flasche Cognak fest, in der noch knapp die Hälfte der goldbraunen Flüssigkeit funkelte.

Mit glasigen Augen starrte sie das Medaillon an, das sie so fest in ihrer Hand hielt, als wolle sie es zerdrücken. Es war aus Gold und zeigte auf der Vorderseite Amor mit Pfeil und Bogen. Auf der Rückseite trug es die Inschrift: In Liebe, Martin.

Vor fünfundzwanzig Jahren hatte sie sich im siebten Himmel geglaubt, als sie mit Hilfe dieses Medaillons den Mann ihrer Träume eroberte und ihre Rivalin Lisa das Feld räumte. Ihrem mahnenden Gewissen versicherte sie, ein glücklicher Zufall hätte die Hände im Spiel gehabt.

Doch Martin liebte sie nicht, hatte sie nur geheiratet, weil sie tröstend an seiner Seite stand, als Lisa ihn ohne ein Wort der Erklärung verließ und für ihn die Welt einstürzte.

Der Traum zerbrach, ihr Gewissen mahnte immer lauter und nachdrücklicher, endlich reinen Tisch zu machen. Doch ihre Angst, Martin ganz zu verlieren, war noch größer. Nur im Alkohol konnte sie ihre Schuldgefühle und Ängste ertränken, für kurze Zeit, dann tauchten sie wieder auf, als könnten sie schwimmen.

Jetzt saß Dolores inmitten des Scherbenhaufens ihres Lebens und erkannte, dass nichts mehr zu kitten war.

Sie fingerte nach einem Abreißblock und einem Kuli hinter sich auf der Anrichte und kritzelte auf das oberste Blatt: Ich gebe zurück, was ich gestohlen habe. Das Blatt riss sie ab, legte es gut sichtbar auf den Tisch und das goldene Medaillon mit endgültiger Nachdrücklichkeit oben drauf. Dann erhob sie sich schwankend, fummelte im Küchenschrank nach der Packung Schlaftabletten, die sie dort schon längere Zeit aufbewahrte, und schluckte Tablette für Tablette, ganz langsam, und nach jeder spülte sie kräftig mit Cognak nach, bis die Flasche leer war.

Dann zog sie sich am Geländer die Treppe nach oben, entkleidete sich so sorgfältig, sie es noch vermochte, zog ihr neues weißes Nachthemd an und legte sich in ihr Bett, um zu schlafen - und nie mehr wieder aufzuwachen.