Bis der Morgen graut


"Hey, verdammt, welcher Idiot hat denn die Sicherungen rausgedreht?"
Carla steckte den Finger in den Mund, den sie sich verbrannt hatte. Das Licht war just in dem Moment ausgegangen, als sie nach dem Wasserkessel hatte greifen wollen, um den grünen Tee aufzugießen.
'Scheiß Wasserkessel', dachte sie, 'ich bin froh, heut wieder in die zivilisierte Welt zu kommen. Ich hab die Schnauze voll von dieser primitiven Schneehütte.'
"Mann!", sie legte noch einiges an Lautstärke zu, "drück doch endlich mal einer die Sicherung wieder rein!"
Mitten am hellen Nachmittag war es in diesem verdammten Alpental schon dunkel wie in einem Kuhmagen. Warum hatte sie sich von Paul bloß breitschlagen lassen, an diesem "garantiert einmaligen alternativen Sylvestervergnügen" teilzunehmen?
Jahreswechsel am Arsch der Welt, in einer Hütte, in der es Luxus war, dass es überhaupt Strom gab und fließendes Wasser und, allerdings ständig streikende, Nachtspeicheröfen, die schon zu Methusalems Zeiten Antiquitäten gewesen sein mussten. Und wo andere Leute ein Wasserklosett hatten, pinkelte man hier ins Kompostklo. Warum musste Paul ausgerechnet eine Tante Marga im gottverlassensten Winkel der Welt haben, die gelegentlich Übernachtungsgäste aufnahm? Okay, Britta, Piet und Bela hatten sich als wirklich nett entpuppt und Cyra war nicht so eine Nervensäge wie die meisten Vierzehnjährigen, aber trotzdem ... Carla wollte wieder nach Hause zu Wasserklo, Badewanne, Zentralheizung und dem Chinesen an der Ecke.
"Kann jemand endlich mal ...", begann sie erneut und tastete sich in Richtung Flur vor.
"Halt die Klappe", brummte jemand so nah an ihrem Ohr, dass sie einen Satz machte vor Schreck.
"Piet?"
"Ja", kam es mürrisch aus der Dunkelheit, "wer sonst. Ich suche die Taschenlampe, ich muss mich aus dem Dachfenster hängen und vielleicht sogar raus aufs Dach."
"Spinnst du? Wieso denn das?"
"Zum Telefonieren."
"Hat's dich jetzt? Das Telefon steht doch im Flur."
"Die Leitung ist tot."
Carla hatte für einen Moment das bizarre Gefühl, in einem Agatha-Christie-Krimi mitzuspielen.
"Und auf dem Dach tut sie noch?" Sie unterdrückte ein hysterisches Gekicher.
"Sei nicht albern. Ich hab hier drin keinen Empfang mit dem Handy, und vor der Hütte auch nicht. Ich versuchs durchs Fenster oben im Frauenschlafraum. Vielleicht klappt's ja dort oder spätestens dann draußen auf dem Dach. Ich muss durchgeben, dass wir ohne Strom sind, und will sicher gehen, dass das heute Abend mit der Heimfahrt klappt."
"Wo sind denn die anderen?"
"Die nehmen das glücklicherweise mit Humor und spielen mit Cyra in der Stube Verstecken im Dunkeln. Ah, hier ist ja die Taschenlampe."
Ein dünner Lichtstrahl huschte zitternd vor Piet die Treppe hoch, und so kümmerlich das Lichtchen war, hatte es doch etwas Tröstliches in dieser Finsternis.
Carla konnte ein Gefühl des Unbehagens nicht unterdrücken. Woher kam dieser Stromausfall? Hoffentlich bedeutete das nichts Schlimmes. Ein Glück, dass Piet dabei war, der Praktische. Er war in diesen fünf Tagen derjenige gewesen, dem es zu verdanken war, dass aus sieben mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelten Leuten verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft so etwas wie eine Gruppe geworden war. Er hatte die Aufgaben verteilt, die in diesem primitiven Ambiente erledigt werden mussten, wie Holz holen, Toilette putzen und dergleichen.
Ein Glück, dass sie nicht auch noch kochen mussten, das hatte Tante Marga gemacht, die mit ihren 73 Jahren bei weitem die Älteste und dabei so fit war, dass man ihr höchstens 55 Jahre gegeben hätte. Alle mochten sie, und sie kochte Hausmannskost, die es in sich hatte.
Marga würde sie vermissen. Sie erinnerte sie ein bisschen an ihre Großmutter, die Carla abgöttisch geliebt hatte. Nun ja, es war trotzdem gut, dass der Bus sie heute abholen und wieder in die normale Welt bringen würde. Die Hütte war ja irgendwie schon romantisch, aber einfach zu primitiv.
Carla tastete sich durch den pechfinsteren Flur zur Stube vor. Warum sollte sie nicht auch mit den anderen im Dunkeln Verstecken spielen? Sie kicherte leise. Mein Gott, wie lang hatte sie das schon nicht mehr gemacht!
"Autsch!"
Sie hatte völlig vergessen, dass die schon gepackten Rucksäcke, Taschen und Koffer im Flur standen, war über den Gepäckstapel gestolpert und mit einem respektablen Knall zu Boden gegangen.
"Autsch!", wiederholte sie, sehr laut diesmal, und rieb sich die Stirn an der Stelle, an welcher sich schon ein Horn zu bilden begann.
Die Stubentür ging vorsichtig auf, und Paul fragte besorgt aus der Dunkelheit:
"Warst du das, Carla?"
"Nein, Hadschi Halef Omar, Idiot."
"Oh, gut, dann lebst du noch."
Carla musste wider Willen lachen und setzte schon zu einer gepfefferten Entgegnung an, als Piet die Treppe herunter gepoltert kam. Was er von sich gab, ließ nichts Gutes ahnen:
"Scheiße, Scheiße, Scheiße ...!"
Die Taschenlampe verdiente ihren Namen nicht mehr, sie funzelte nur noch sehr blass vor sich hin. Die Gesichter der kleinen Gruppe, die wie vage bleiche Geisterballons im Fastdunkel hingen, wandten sich ihm zu.
Paul versuchte ihn zu trösten:
"Irgendwo finden wir bestimmt noch ein paar Batterien ...!"
"Ach was, Batterien", unterbrach ihn Piet frustriert, "die helfen uns auch nicht hier weg. Wir sitzen fest."
Inzwischen drängten sich alle sieben im Flur und versuchten zu verstehen, um was es ging.
"Wie fest?", fragte Bela, "was soll heißen das?"
Piet ließ sich auf einem der Rucksäcke nieder.
"Das soll heißen, dass wir heute Abend nicht hier wegkommen, weil unten am Kogel eine Lawine abgegangen ist, die nicht nur die elektrischen Leitungen geschrottet hat, sondern auch die Straße unpassierbar macht. Das kommt um die Jahreszeit zwar selten vor, kann aber durchaus geschehen. An der Stelle ist es allerdings noch nie passiert. Der Empfang mit dem Handy war zwar lausig, aber es besteht kein Zweifel, dass ich das richtig verstanden habe."
"Oh Gott!" Das kam aus mehreren Kehlen. Dann herrschte betroffenes Schweigen.
"Ja und jetzt?" Brittas Stimme zitterte, "kann bei uns auch eine Lawine...?" Sie stockte.
"Na ja ... das hab ich auch gefragt. Sie meinten, eher nicht, aber garantieren könnten sie es nicht. Ich denke, die Wahrscheinlichkeit tendiert gegen Null", winkte Piet ab, aber der Ausdruck seiner Augen erzählte etwas Anderes.
"Na, das ist ja ungemein beruhigend", konterte Britta zynisch.
"Ist hier denn schon mal eine Lawine runtergekommen, Omi?", fragte Cyra ängstlich.
Marga tätschelte ihre Enkelin beruhigend:
"Nein, bei der Hütte noch nie. Sie liegt sehr geschützt, und in den fast hundert Jahren, seit sie existiert, war sie noch nie in Gefahr.
Aber ganz in der Nähe ... ja ... das schon."
"Na toooll!" Carla schlang die Arme um ihren Oberkörper und warf Paul einen frustrierten Blick zu."
"Also, jetzt lasst mal die Kirche im Dorf", fuhr Piet dazwischen. "Die Wahrscheinlichkeit ist mehr als gering. Aber was soll's, so ist es jetzt einfach, und wir müssen schauen, wie wir die Nacht irgendwie rumkriegen. Sie werden vor morgen Mittag die Straße nicht wieder soweit freikriegen, dass wenigstens der Bus zu uns hochkommt, wenn überhaupt. Bis morgen früh können sie sowieso nichts machen. Wir sind mit ziemlicher Sicherheit nicht wirklich gefährdet  nur abgeschnitten. Ohne Strom."
"Dein Wort in Gottes Ohr", brummte Carla.
"Und ohne Kerzen und ohne Taschenlampen ... die hier nützt nichts ohne Batterien ... und ohne Lebensmittel", ergänzte Marga lakonisch. "Na, das ist ja entzückend."
Bela, der Ungar, begann zu lachen:
"Jaj Istenem! Aber eigentlich das ist doch nicht schlimm. Bis morgen wir nicht verhungern und Tee haben noch und ein paar Keksen."
"Aber ich will nicht immer im Dunkeln sitzen", sagte Britta nachdrücklich, "ich drehe durch, ich brauche Licht. Und schlafen kann ich auch nicht, wenn ich weiß, dass hier Lawinen rumgeistern."
"Ich will auch nicht im Dunkeln sein, Omi, ich hab Angst im Dunkeln", sagte die vierzehnjährige Cyra mit bebender Stimme.
"Das musst du nicht", sagte Marga sanft. Dann wurde sie resolut:
"Bela und Piet, ihr geht raus, bevor diese Funzel vollends den Geist aufgibt. Holt so viel Holz für den Kamin, wie ihr nur könnt."
Die beiden waren schon verschwunden, als Marga fortfuhr:
"Paul, du suchst Streichhölzer. Irgendwo in der Küche muss es welche geben. In der Schublade neben dem Besteck. Und Carla, du musst eine von deinen Zeitschriften opfern, wir brauchen Papier zum Anzünden."
"Die sind hier unten schon im Koffer, die hab ich mit einem Griff."
"Gut! Und die anderen bringen alles Essbare, was sie noch finden, in die Stube. Ich gehe in die Küche und hole Teebeutel, Henkeltassen und den Teekessel, den können wir auch in die Glut stellen, er ist ganz aus Edelstahl, dann haben wir sogar heißes Wasser. Und vergesst eure Bettdecken nicht, es könnte euch von hinten kalt werden, trotz des Feuers von vorne."
Zunächst hatte es allen die Sprache verschlagen, aber dann machte sich eine launige Stimmung breit. Überall im Haus hörte man Poltern, Gestolper, Kichern, Gelächter, Buh-Rufen und spitze Schreie, und einer nach dem Anderen tastete sich mit seinen Schätzen zur Stube durch.
Dort prasselte schon ein helles Feuer im Kamin, das den Raum in ein gemütliches Licht tauchte. Die flackernden Flammen malten huschende Schatten an die holzvertäfelte Wand, und mit der Dunkelheit waren auch die Ängste verschwunden.
Bald saß die ganze in Decken gehüllte Gruppe wie eine Ratsversammlung von Apatschen im Halbkreis um die Feuerstelle, in der auf einem aus Ziegelsteinen improvisierten Dreibein der Wasserkessel zu summen begann. Auf einem Beistelltischchen lagen verschiedene Köstlichkeiten wie Schokoriegel, Kekse mit und ohne Füllung, eine halbe Packung Zwieback, drei Tüten Trockenobst und zwei mit Studentenfutter, und neben fünf Äpfeln, drei Mandarinen und einer Orange glänzte sogar eine in Goldfolie eingeschweißte Zitronenrolle. Sieben irdene Henkeltassen, ebenso viele Kuchentellerchen und ein paar regenbogenfarbene, selbst gehäkelte dicke Topflappen für den Teekessel vervollständigten das Stillleben.
"Omi, das sind ja leckere Sachen", freute sich Cyra, "da müssen wir ja gar nicht verhungern."
"Nein. Das hätten wir aber auch so nicht gemusst", schmunzelte Marga, "so schnell verhungert man nicht. Und Wasser für den Tee haben wir übergenug. Das brauchen wir auch, denn wir werden diese Nacht wohl kaum schlafen können."
"Na, das kann schön langweilig werden. Keine Musik, niemand hat noch Saft für seinen MP3-Player, kein Fernsehen, nicht mal Radio. Mist!", maulte Carla frustriert.
Marga begann fein zu lächeln.
"Nun, all das gab es früher auch nicht. Ich wohne zwar inzwischen drunten im Dorf Bergl, bin aber, wie ihr ja wisst, in dieser Hütte in großer Armut aufgewachsen. Als ich ein Kind war, kam es im Winter immer wieder vor, dass wir eingeschneit waren und nicht aus dem Haus konnten. Tagelang. Ohne Fernseher, Radio oder MP3 Player. Wir hatten ja nicht einmal Telefon."
Britta schüttelte den Kopf:
"Mein Gott, wie furchtbar, womit habt ihr die Zeit denn dann gefüllt?"
Marga antwortete nicht. Sie schaute versonnen ins Feuer, dann hob sie den Kopf und blickte einen nach dem anderen an. Schließlich sagte sie:
"Mit Geschichten. Wenn die Arbeit getan war, setzten wir uns zusammen und jeder hatte eine Handarbeit. Die Frauen spannen, die Mädchen strickten, stickten oder häkelten, die Männer reparierten kleinere Dinge oder schnitzten und bemalten Gegenstände. Und reihum erzählten wir Geschichten. Alte Sagen, Legenden und Märchen, und wer viel Fantasie hatte, erfand Geschichten, oder die Großmutter las aus der Bibel vor."
Bela applaudierte anerkennend. Piet warf Paul einen fragenden Blick zu, doch der zuckte nur verlegen mit den Achseln.
Carla zögerte zunächst, doch dann fasste sie sich ein Herz:
"Ähm, also ... ich ... kann nicht gut Geschichten erzählen, außerdem weiß ich keine ... und ..."
"Mach dir keine Gedanken, Carla", unterbrach Marga lächelnd, "ich werde jetzt beginnen. Lasst euch einfach entführen von mir. Danach werden wir sehen. Diese Geschichte hat eine Freundin von mir selbst erlebt. Sie hat sie mir erst kürzlich erzählt. Jetzt erzähle ich sie euch und zwar so, als wäre ich Marion. Ich denke, sie wird nichts dagegen haben."
Marga ließ ihren Blick noch einmal über die Gestalten vor dem Feuer wandern, die jede für sich ganz ergeben dasaßen und sie mit erwartungsvollem Schweigen anschauten.
Marga nickte und begann: