Zeit und Raum


„Es ist einfach sonderbar, Gerrit“, sagte Joana Closey, als sie am Abend aus ihrem Seidenkostüm schlüpfte.
„Hm?“, murmelte ihr Mann. Er kämpfte eben mit seinem Sockenhalter, der sich im Hosensaum verfangen hatte.
„Ich sagte: ‚Es ist schon sonderbar‘“, wiederholte Joana.
Sie zog das Nachthemd über und schlüpfte unter die Decke.
Von dort beobachtete sie amüsiert Gerrits Laokoon-Kampf.
„Was meinst du damit?“ Gerrit schaute sie fragend an.
‚Da hatten wir heute unsere goldene Hochzeit‘, dachte sie gerührt, ’50 Jahre seit 1948! Einige Speckpölsterchen hat er mehr und viele Haare weniger. Aber ich liebe ihn womöglich noch mehr als damals. ‘
„Nun“, fuhr Joana fort, „daß dein Heiratsantrag damals nicht ankam, ist doch sonderbar. Ich hielt es für ein schlechtes Omen, aber es hat sich nicht erfüllt. 50 Jahre! Denk mal!“
„Na ja“, murmelte Gerrit verlegen, „es war ja auch nicht gerade die Glanzidee, den Antrag einer Brieftaube ans Bein zu hängen.“
Er hatte den Kampf gegen den Sockenhalter endlich gewonnen und kroch neben Joana ins Bett.
„Ach“, Joana lachte, „aber es war so wunderbar romantisch!“
Gerrit grinste: „Nun, ich hab‘ dich ja trotzdem bekommen. Gott sei Dank.“
„Gerrit?“
„Hm?“
„Wo sie wohl hingekommen ist?“
„Wer denn, Schatz?“
„Na, die Taube.“
„Oh“, lächelte Gerrit geheimnisvoll, „sie fliegt sicher noch durch Raum und Zeit und sucht nach dir. Das würde ich auch, wenn ich dich damals nicht bekommen hätte. Ich habe dich schon immer gesucht. Alle meine Leben lang.“
„Oh Gerrit! Das ist die schönste Liebeserklärung, die du je gemacht hast ... durch Raum und Zeit ... auf was für Ideen du kommst!“
Gerrit schmunzelte und wandte sich ihr mit dem altvertrauten Glitzern in den Augen zu.