Heiligabend


Gabi war schon auf dem Heimweg, als sie den Schlag der Turmuhr in der Dämmerung hörte. Normalerweise wären die Straßen um diese Tageszeit noch mit Menschen erfüllt, aber nicht heute. Es war Heiligabend und in den Fenstern sah sie, wie die Familien beisammen saßen und die Kinder mit der Bescherung beschäftigt waren. Einige Kinder lachten, andere schauten noch erwartungsvoll und ein kleiner Teil naschte bereits von den Süßigkeiten, die reichlich unter den Bäumen lagen.
Mit einem leichten Anflug von Wehmut ging Gabi an all dem vorüber. Die Menschen hinter den warmen Fensterscheiben, an denen von außen ein paar Eiskristalle glitzerten, bemerkten sie nicht. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Leichter Nebel begann allmählich die Gassen zu füllen. Fast hauchleise waren in der Ferne gesungene Choräle wahrzunehmen. Das Abendrot wechselte unmerklich in ein tiefes Dunkelblau über. Schon fast unheimlich schien der Vollmond hinter dicken Regenwolken hervor.
Als sie das Stadttor erreichte, tauchten Schneeflocken die Stimmung in ein fast furchteinflössendes Funkeln. Gabi drehte sich noch einmal um und schaute ein letztes Mal auf die Stadt, in der sie so viel Kummervolles erlebt hatte. Sie fragte sich, was es für Menschen sein mochten, die kurz vor Heiligabend ihren besten Mitarbeitern kündigten. Zu feiern gab es nichts.
Die Tannen in ihrer Umgebung neigten sich unter der Schneelast, als wollten sie in tiefer Anteilnahme mit ihr weinen.
An den warmen Öfen in der Stadt, saßen alle beisammen, atmeten den angenehmen Weihrauch, den Duft der Bienenwachskerzen, erzählten sich Geschichten.
Unterdessen erreichte Gabi den merkwürdig geformten Steinblock, der die Form eines Gesichtes hatte. Erschöpft setzte sie sich am Fuß des Felsens und weinte bitterlich. Eine Eule heulte durchdringend, Wind peitschte die frostige Luft, Schneegestöber durchwirbelte die Schlucht. Es dauerte nicht lange und der Schnee umhüllte sie in einer weichen Decke.
Seit dieser Nacht trägt das Tal den Beinamen, das Weihnachtsgrab.



© Maro Kusz