Willst du mit mir gehen?


Die Frage kommt eigentlich nicht überraschend. Seit Monaten schon habe ich ihren Blick Richtung Mauer registriert. Ein forschender, sehnsuchtsvoller Blick. An manchen Tagen geht sie stundenlang die Mauer entlang, bleibt zuweilen stehen, berührt sie vorsichtig, streichelt sie wie die Flanke eines großen Tieres.

Immer wieder will sie über die Welt hinter der Mauer reden, doch keiner hört ihr zu. Wen interessiert schon was jenseits von Sicherheit und Glück liegt?!

Ihr ist das nicht genug.

Ich spüre, dass sie unruhig ist, auf dem Sprung. Aber trotzdem hätte ich diese Frage nie erwartet, dachte die Schönheit und der Friede hier reichten aus, um sie zu halten. Jetzt ist sie da und sie gefällt mir nicht. Ich will sie nicht beantworten, will sie einfach ignorieren, aber sie steht hartnäckig zwischen uns.

Eigentlich ist die Antwort klar. Natürlich will ich nicht mit! Warum soll ich diesen Ort verlassen? Ich bin glücklich hier! Aber sie scheint es nicht zu sein. Warum nicht?

Mein Zögern macht sie wütend.

"Willst du nicht wissen, was hinter der Mauer ist? Willst du ewig hier so weitermachen? Immer dasselbe, tagein, tagaus? Ich versteh dich nicht. Wie kann man nur so langweilig sein!" Sie dreht sich um und läuft entschlossen auf das Tor zu.

Sie wird nie zurückkehren. Keiner ist jemals zurückgekommen. Wenn ich sie nicht verlieren will muss ich ihr folgen! Mein Magen krampft sich zusammen, mir wird schlecht. Sie ist schon fast beim Tor. Wenn ich mich nicht beeile, ist sie weg. Ich weiß nicht, ob ich sie draußen wiederfinden würde. Ich weiß ja nicht mal was da draußen ist.

Schnell, ich muss mich sputen!

Ich renne los, hole sie ein, nehme ihre Hand.

Gemeinsam verlassen wir das Paradies.



© Evelyne Okonnek
01.12.2001