Sisyphos in der Stadt


Das Licht ist gedämpft, es ist drinnen kaum heller als draußen. Die nächste Haltestelle erreichen wir erst in einer Viertelstunde. Der Bus rumpelt langsam die schlaglochübersäte Straße entlang. Selbst wenn mehr als 30 km erlaubt, er wäre wohl kaum schneller. Es riecht muffig, nach Schweiß, kaltem Zigarettenrauch und nasser Wolle. Erschöpft von der Aussicht auf die ungeliebte Arbeit schaue ich aus dem schmutzigen Fenster, um nicht zufällig in Kontakt mit einem anderen Fahrgast zu geraten.

Draußen gleiten alte Backsteingebäude vorbei, stattliche Altbauten mit Villenambitionen, die winterlichen, ungepflegten Gärten gefüllt mit verrosteten Fahrrädern und dann und wann einem Bobbycar. Eine windschiefe Schaukel, ein vergessener Ball mit leuchtend weißen Punkten. Die alte Fabrik, heute Heimat von Versicherungen und Investmentgesellschaften, trotzt wichtig ihrem Abbruch. Eine vergammelte Autowerkstatt verziert sich mit Schrottautos. Auf sozialen Wohnungsbau folgt ein unbefestigter Parkplatz. An dessen Rand stapelt sich Sperrmüll, Auswurf des angrenzenden Asylantenwohnheims, in dem eine nackte Glühbirne ihr grelles Licht durch ein zerbrochenes Fenster wirft. Kein Mensch ist zu sehen, gewohnte Ordnung, beruhigend in zuverlässiger Eintönigkeit.

Fast erschreckend eine Bewegung in der Dunkelheit auf dem Gehweg vor dem Wohnheim. Sie gehört nicht dorthin, die Gestalt, läuft am Eingang vorbei, dem Bus entgegen, in merkwürdig angespannter, aufrechter Haltung, die Arme auf dem Rücken verschränkt, die Füße tasten vorsichtig abgebremste, kleine Trippelschritte. Sie schaut nicht auf den Weg, die alte Frau, sondern starr geradeaus. Dunkle Hose, helle Jacke, zierliche Gestalt. Graugelockte Haare um das zarte, ausdruckslose Gesicht. Ihre suchend verzögerten Schritte halten meinen Blick fest, lassen meinen Kopf sich drehen, als wir an ihr vorbei fahren. Erstaunt erkenne ich den Grund. Ihre Arme sind nicht einfach verschränkt, sie ziehen eine Sackkarre auf der ein großer Stein mit einem Seil befestigt ist.

Erleichtert begrüße ich die wiederhergestellte Ordnung der Ereignisse. Es gibt einen Anlass für die ungewöhnlichen Bewegungen der Frau. Doch in die Zufriedenheit drängen sich neue Fragen, Gedanken, Bilder. Es scheint als wäre das Woher und das Wohin abgeschnitten von der Szene, als gäbe es nur die abgehackten Schritte der alten Frau am Wohnheim vorbei, die stoisch ihre Last in der Dunkelheit zieht. Der Ausschnitt aus der Wirklichkeit da draußen, so unwirklich, optisch aus dem Rahmen fallend, wirkt wie festgezurrt in der Ewigkeit. Sisyphos fällt mir ein. Meine eigene Arbeit und Unzufriedenheit. Für einen Moment verschmelze ich mit der alten Frau, fühle stumpfen Sinn und quälend scharf die Unmöglichkeit der Situation, das Ziel bleibt nicht erkennbar. Ich mag dieses Gefühl nicht und weiß doch, ich kann dieses Bild nie wieder abschütteln. Als wäre ich auserwählter Zuschauer eines Dramas, das in diesem Augenblick nur für mich gespielt wird.

Das Licht im Bus geht an. An der nächsten Haltestelle steige ich aus, obwohl es nicht die meine ist. Es ist Zeit zu gehen.



© Evelyne Okonnek
25.03.2003