Glück


Sie ging auf dem Rücken eines grau schimmernden Wals. Links und rechts von ihr wogten grüne Wellen im Wind. Eine weiße Haarsträhne wehte über ihre Augen, versperrte ihr die Sicht. Sie blieb stehen, vertäute sie mit zitternden Fingern hinter ihrem rechten Ohr. Wenn sie endlich ankam würde sie sie abschneiden. Alles musste seine Ordnung haben.

Das Tier unter ihr war unruhig. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie durfte nicht fallen, nicht jetzt. Die Wellen würden über ihr zusammen schlagen. Sie hatte nie schwimmen gelernt. Ihr Herz flatterte ängstlich. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Nein, es war richtig, dass sie fortgegangen, sie hatte keine andere Wahl. Nie hätte man ihr das Lachen erlaubt. Und wie hatte sie gelacht als das Tier sie forttrug. Sie fühlte sich stolz und frei auf seinem Rücken, breitete die Arme aus und sang dem Wind entgegen.

Die Unsicherheit kam später, zusammen mit dem Hunger. Sie ahnte, dass sie schon lange unterwegs sein mußte. Wie lange, konnte sie nicht sagen, sie hatte kein Zeitgefühl. Und sie sah noch immer kein Land. Nur ab und zu am Horizont eine dunkle Silhouette. Das mußten Schiffe sein. Sie hatte noch nie welche gesehen. Nur davon gehört.

"Ein Schiff wird kommen." Sie sang die Zeile wieder und wieder. Die einzige, die sie kannte. Aber sie war sich nicht sicher ob Schiff Gefahr bedeutete.

Hoch über ihr malte ein Vogel weiße Streifen an den Himmel. Sie lachte und winkte.

"Danke Vogel, danke!", rief sie. Es war ein Zeichen! Sie musste es nur noch verstehen.

Es gab viele Zeichen wenn man darauf achtete. Heute Morgen die Sonnenfinger auf dem Holzboden vor ihrem Bett. Wie sie tanzten! Wie Karl. Sie lachte vor Freude. Die offene Tür. Ein vergessener Schuh an der Treppe. Sie nahm ihn mit, wusste zu wem er gehörte. Sie musste ihn nur noch finden. Und sie war sicher, sie würde ihn finden. Weil sie nicht daran glaubte was die Leute sagen, es nie geglaubt hatte. Er würde sie niemals allein lassen in dem großen Haus. Unter so vielen Fremden, die ihr Angst machten. Sie hielten ihn irgendwo gefangen und sie würde ihn befreien. Dann würde er wieder für sie singen und seine Pirouetten drehen bis sie ihr Lachen nicht mehr verstecken konnte. Aber er würde sie nie verraten!

"Ein Schiff wird kommen." Ihre Stimme schwankte wie das Meer. Der Wal schwamm eine scharfe Kurve. Geschickt hielt sie sich auf ihm. Sie ließ sich nicht abschütteln. Sie drehte sich neugierig um, hinter ihr schlugen die Wellen zusammen. Sie konnte nicht mehr erkennen von wo sie gekommen war. Erschrocken schaute sie wieder nach vorn. Vielleicht ein wenig zu schnell. Ihr wurde schwindlig.

Verwundert setzte sie sich auf, betrachtete ihr zerrissenes Hemd, die mageren Beine, ihre nackten Füße. Blut lief über ihre faltige Haut. Sie mußte hingefallen sein.

"Böses Tier!" Sie schlug mit dem Schuh, den sie immer noch in der Hand hielt, auf seinen Rücken. Hielt plötzlich inne. Sie durfte ihn nicht erschrecken! Sonst würde er sie abwerfen. Vorsichtig setzte sie sich bequem hin, streckte die Beine aus. Wackelte ein bisschen mit den Zehen. Sie beschloss, sich auszuruhen. Zog das hochgerutschte Hemd über ihre Knie, strich es glatt und beobachtete wie der weiße Stoff sich langsam rot färbte. "Rot wie Blut, weiß wie Schnee," kicherte sie. Dann legte sie sich zurück, breitete die Arme aus und schaute zufrieden nach oben. Ihre Augen tranken gierig das Blau.

Fast schon hatte sie vergessen wie die Decke aussah, die sie fast ihr ganzes Leben anstarren musste. Ja, sie war eine Wilde gewesen, hatte sich gewehrt bis man sie festband. Danach blieben ihr nur noch die Zeichen. Risse in der Decke, die mit ihr sprachen und die sie mühsam zu verstehen lernte. Sie rieten ihr, sich zu verstellen, still zu sein und abzuwarten. Und sie hielt sich dran, versteckte sich ganz tief drinnen. Auch als man ihr sagte Karl sei gestorben, um sie rauszulocken. Sie wusste es besser. Und jetzt war sie hier, sie war frei. Und bald würde sie Karl wiedersehen. Sie lachte und schloss die Augen vor so viel Glück. Ein wenig Erschöpfung war auch dabei. Sie war so lange unterwegs gewesen.

Ihr Schlaf war tief und traumlos. Sie hörte das Auto nicht, das viel zu schnell auf der schmalen Straße durch die wogenden Felder fuhr und sich unaufhaltsam näherte.



© Evelyne Okonnek
30.08.2002