Gefährliche Begegnung


Seit sie die alte, vom Blitz gespaltene Eiche passierte hatte, wurde sie das deutliche Gefühl nicht mehr los, dass ihr jemand folgte. Doch wie die letzten beiden Male, als sie durch den Wald ging, konnte sie niemanden sehen, so oft sie sich auch umdrehte. Natürlich hatte ihr Vater gelacht, als sie ihm davon erzählte, und sie wegen ihrer blühenden Phantasie geneckt. Sie konnte es ihm nicht verübeln, daheim in der warmen Stube erschienen ihr ihre Ängste wirklich grundlos. So hatte sie sich drei Tage später erneut auf den Weg gemacht. Jemand musste sich um die alte Frau kümmern und ihre Eltern waren im Moment damit beschäftigt, schnellstens die Ernte einzubringen. Dieses Jahr brach der Herbst viel zu früh herein, ein strenger Winter schien bevor zu stehen. Es war bereits jetzt, kurz nach Mittag, so kalt wie sonst um diese Jahreszeit nur am späten Abend. Das Mädchen fröstelte, zog den leuchtend roten Umhang fest um sich und die Kapuze tiefer ins Gesicht. Sie mochte das wollene Ding nicht, ein Geschenk der reichen Witwe vom Hof nebenan, die Farbe war ihr viel zu auffällig. Doch ihre Mutter bestand darauf, dass sie es trug, sie wollte es sich mit der Nachbarin nicht verderben. Diese war seit kurzem wieder verheiratet – "Liebe auf den ersten Blick", hatte sie gekichert – doch der Fremde, der vor drei Monaten plötzlich in ihrem abgelegenen Dorf aufgetaucht war, blieb dem Mädchen unheimlich. Er schaute sie immer so merkwürdig an. Einmal, er saß auf dem Küchenstuhl, hatte er sie an ihren Zöpfen gepackt und ganz nah an sich herangezogen.

"Nicht so schüchtern, mein Kind!", flüsterte er heiser und sie spürte seinen heißen Atem in ihrem Nacken.

Die Nachbarin lachte und gab ihr den Korb mit den Eiern. "Sag deiner Mutter auch schönen Dank, dass sie mir ausgeholfen hat."

Das Mädchen nickte und versuchte, sich los zu machen. Nach kurzem Zögern gab er sie frei.

"Warum trägst du nicht den schönen roten Umhang, den dir meine Frau geschenkt hat? Er steht dir so gut."

Sie wurde rot. Die Nachbarin sah sie fragend an.

"Er mußte gewaschen werden. Einen schönen Abend noch!" Damit eilte sie zur Tür hinaus.

Und nun trug sie das verhasste Ding und war doch froh darüber, wie gut es sie wärmte. Sie war fast da. Rasch durchschritt sie den Hohlweg, die letzte Etappe. Hinter einer scharfen Biegung konnte sie sehen, wie sich der Weg weiter vorne zu einer kleinen Lichtung öffnete, an deren Ende das Häuschen der alten Frau stand. Rauch stieg aus dem Kamin auf. Sie fing an zu rennen. Außer Atem klopfte sie an die Tür und öffnete sie, ohne noch das freundliche "Herein" abzuwarten. Die Alte saß wie gewohnt am Kamin und sah sie überrrascht an.

"Was ist dir denn zugestoßen? Du stürmst ja hier rein, als wäre der Teufel hinter dir her."

Verlegen schloss das Mädchen die Tür und weil die alte Frau nicht locker ließ, erzählte es ihr schließlich von seinen Ängsten. Diese schüttelte nur den Kopf. "Kindchen, Kindchen", murmelte sie schließlich. Mehr sagte sie nicht dazu, aber wie um sie abzulenken erzählte sie ihr von früheren Zeiten. Sie hatte viel erlebt und nach einer Weile hatte sich das Mädchen beruhigt.

"Schau her, ich zeig dir etwas, was noch kein Mensch hier gesehen hat", flüsterte die Alte plötzlich geheimnisvoll.

Sie suchte in einer alten Truhe und zog ein kleines Kästchen hervor, das mit Knöpfen gefüllt war. Die Frau wühlte mit ihren knotigen Fingern in den Knöpfen und zog eine sternförmige, mit leuchtend blauen Steinen besetzte Brosche hervor. Sie lächelte, als sie die erstaunten Augen des Mädchens sah.

"Weißt du, ich war auch mal so hübsch wie du", kicherte sie. "Leider durfte mich mein Liebster nicht heiraten. Aber er schenkte mir zum Abschied das da."

Sie beugte sich nach rechts Richtung Fenster und hielt die Brosche ans Licht, ihr Gesicht wurde plötzlich ganz traurig. Das Mädchen wandte sich ihr zu und wollte gerade etwas Tröstliches sagen, als ein Schatten, der durchs Fenster fiel, es erschreckte. Sie sah genauer hin, aber nichts war zu erkennen. Sofort kehrte ihre Angst zurück. Die Alte bemerkte ihre Unruhe.

"Ach ich altes, geschwätziges Weib! Da halt' ich dich auf mit meinen Geschichten und vergesse ganz, dass du ja wieder nach Hause mußt. Du solltest dich in der Tat sputen, es wird früh dunkel." Mit diesen Worten packte sie die Brosche wieder ein und verstaute das Kästchen in der Truhe. "So Kleines, jetzt aber rasch und vergiss nicht, deine Eltern zu grüßen und meinen Dank auszurichten." Sie schob sie regelrecht zur Hütte hinaus und das Mädchen hörte nicht mehr ihr leise gemurmeltes "Viel Glück, mein Kind!", als sich die Tür hinter ihm schloss.

Sie war so verwirrt, dass sie eine ganze Weile nicht mehr an ihre Ängste dachte. Erst als sie merkte, dass es dämmerte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie musste viel länger bei der Alten geblieben sein als üblich. Es roch nach Pilzen und sie spürte mehr als dass sie sah, wie langsam der Nebel herankroch. Sie ging schneller, rannte fast, doch plötzlich hörte sie rechts vor sich im Unterholz ein Knacken, das in Windeseile näher kam. Sie blieb schreckerstarrt stehen, als ein dunkler Schatten aus dem Gebüsch brach und vor ihr stehen blieb.

"Du solltest sehen, dass du nach Hause kommst, es wird dunkel", hörte sie eine vertraute Stimme. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie den Mann erkannte. Sie nickte nur zitternd, konnte ihre Stimme noch nicht finden.

"Ich hab' dich wohl erschreckt. Das tut mir Leid!", sagte der Jäger und tätschelte ihren Kopf. "Du hast nicht zufällig meinen Hund gesehen? Er hat eine Fährte aufgenommen und ist wie der Blitz verschwunden. Ich suche ihn schon seit Stunden."

Sie schüttelte den Kopf.

"Komisch, das hat er noch nie gemacht. Na, der kann was erleben! Ich muss weiter." Er tippte sich an den Hut und drang auf der anderen Seite des Pfades ins Unterholz ein.

Den Rest des Weges rannte das Mädchen nach Hause.

Ein paar Tage später, bei ihrem nächsten Gang durch den Wald hatte sie wieder das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. Dieses Mal gelang es ihr fast nicht, ihre Angst im Zaum zu halten, sie schien von Mal zu Mal größer zu werden. Sie spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten, je tiefer sie in den Wald hinein ging. Ihr Rücken war schweißnass und das Haar klebte an ihrem Kopf, nicht nur, weil sie zu warm angezogen war. Heute Morgen war das Wetter umgeschlagen und die ungewöhnlich heiße Herbstsonne heizte sogar den dichten Wald auf. Es war unerträglich schwül, obwohl heraufziehende Gewitterwolken die Sonne mehr und mehr bedeckten, aber sie konnte sich nicht überwinden, ihren roten Umhang auszuziehen. Dazu hätte sie stehen bleiben müssen und sie wollte keine Sekunde länger im Wald sein als nötig. Endlich sah sie vor sich den Hohlweg. In ein paar Minuten würde sie am Ziel sein. Erleichtert hastete sie um die Biegung an seinem Ende, da sah sie ihn. Er stand mitten auf dem Weg. Unwillkürlich blieb sie stehen. Im ersten Moment hielt sie ihn für den entlaufenen Hund des Jägers, aber dann sah sie, dass er viel größer war. Aus schräg gestellten, gelben Augen starrte er sie an. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie erkannte, was sie vor sich hatte. Sie hatte bisher nur tote Wölfe gesehen, der Jäger war ein guter Schütze, dieser aber lebte. Blitzartig erinnerte sie sich an all die Erzählungen von hungrigen Wolfsrudeln, die im Winter Menschen jagten, die so unvorsichtig gewesen waren, sich zu weit in den Wald zu wagen.

'Aber es liegt doch noch gar kein Schnee!', dachte sie verzweifelt, als ob das etwas an der Situation ändern würde.

Sie wusste, sie hatte keine Chance. Der Weg zur rettenden Hütte war durch das Tier versperrt und sie wäre sowieso nicht schnell genug. Die Geräusche des Waldes verschwanden im Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Ihr Körper fühlte sich ganz taub an, als würde er nicht mehr zu ihr gehören. Sie spürte ihre Beine nicht mehr, nur ihr Herz flatterte, als hätte es ein Eigenleben. Das Licht veränderte sich, es wurde dunkler, das grau gezeichnete Fell des Tieres vor ihr schien mit der Umgebung zu verschmelzen. Die gelben Augen des Wolfs leuchteten, er rührte sich nicht. Sie wusste nicht, wie lange sie sich so bewegungslos gegenüber gestanden hatten, als mit einem Mal ein Blitz den Wald erhellte. Geblendet schloss sie die Augen, um sie gleich darauf wieder aufzureißen. Ungläubig starrte sie auf den Weg. Der Wolf war verschwunden. Krachender Donner riss sie Sekunden später aus ihrer Erstarrung, sie ließ den Korb fallen, drehte sich um und rannte wie von Furien gehetzt nach Hause. Der Vater wollte ihr nicht glauben und hielt die Begegnung mit dem Wolf für eine Ausgeburt ihrer Phantasie.

"Ein Wolf hätte dich gefressen und du wärst jetzt nicht hier, um mir diese Ammenmärchen zu erzählen!", fuhr er sie an, als sie darauf bestand, die Wahrheit gesagt zu haben.

Das Mädchen schwieg resigniert. Ihre Angst, wieder in den Wald zu müssen, erwies sich als unbegründet, denn am nächsten Morgen machte eine schreckliche Nachricht im Dorf die Runde. Die alte Frau im Wald war tot, der Jäger hatte sie mit aufgeschlitzter Kehle gefunden. In dem kleinen Häuschen war alles durcheinander geworfen gewesen und mit Blut bespritzt. Der Jäger war sichtlich mitgenommen von dem Anblick. Am Nachmittag zogen ein paar kräftige Männer in den Wald und brannten die alte Hütte mitsamt ihrem armseligen Inhalt nieder. Die Leiche der alten Frau hatten sie in einen Sarg gebettet und trugen sie ins Dorf, wo sie sie begruben. Noch Wochen danach rätselten die Leute über den Grund für den Mord, denn jeder wusste, bei dem armen, alten Weib gab es nichts zu holen. Eine Zeit lang wurde Kindern und Frauen verboten, alleine den Wald zu betreten, doch die Menschen vergessen schnell und im darauf folgenden Sommer dachte kaum noch jemand daran. Nur das Mädchen vermißte die alte Frau, doch es konnte seinen Kummer mit niemandem teilen.

Ein neuer Herbst überzog das Land mit roten und goldenen Farben. Die ersten Nachtfröste erinnerten die Menschen an den nahenden Winter. Das Mädchen freute sich an dem bunten Laub, als es im Wald nach Pilzen suchte. Ihr Körbchen war schon fast gefüllt. Seit den schrecklichen Ereignissen letztes Jahr war nichts mehr vorgefallen und sie fing an, sich dort wieder wohl zu fühlen. Nur den Hohlweg und die Lichtung, auf der einst das Häuschen der alten Frau gestanden hatte mied sie. Der Jäger hatte seinen Hund nicht wieder gefunden und sich einen neuen angeschafft. Hin und wieder hatte sie ihn vorsichtig nach Wölfen gefragt, aber er hatte nur gelacht.

"Diese Bestien haben sich schon lange nicht mehr hergetraut. Will ich ihnen auch geraten haben!" Er streichelte sein Gewehr.

Inzwischen war sie fast davon überzeugt, geträumt zu haben. Die Erinnerung erschien ihr immer unwirklicher. So unwirklich, dass sie sich erst nichts dabei dachte, als sie ein Rascheln im Gebüsch hörte. Doch als das leise Geräusch sie hartnäckig verfolgte, stiegen die alten Ängste in ihr hoch. Es wird wohl wieder der Hund des Jägers sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Trotzdem beschloss sie, sich auf den Heimweg zu machen. Das Geräusch ließ sich nicht abschütteln und sie wurde unwillkürlich schneller. Schließlich fing sie an zu rennen. Sie kam nicht weit. Das Geräusch wurde lauter, überholte sie und plötzlich brach ein Schatten aus dem Gebüsch. Sie blieb zitternd stehen. Vor ihr stand der Mann ihrer Nachbarin. Sie schaute ihn mit aufgerissenen Augen an.

"Wohin denn so schnell, meine Kleine?", grinste er.

Sie antwortete nicht, aber das schien ihn nicht zu stören. Er kam näher. Sie wich zurück. Er streckte die Hand nach ihr aus.

"Immer noch so schüchtern? Bei mir brauchst du dich nicht zu verstellen. Ich weiß was du willst." Er beugte sich vor und blinzelte vielsagend. "Ihr kleinen Mädchen seid doch immer so neugierig."

Er griff ihre Hand und versuchte, sie an sich zu ziehen, doch sie stieß ihm mit aller Kraft den Korb in den Bauch und als er überrascht seinen Griff lockerte, riss sie sich los und rannte weg. Sie kam nicht weit, er hatte sie bald eingeholt und gepackt.

"Du ungezogene kleine Kröte!", schrie er sie wütend an.

Als er die Angst in ihren Augen sah, änderte sich sein Ton, wurde leise und in seinem Gesicht erschien erneut ein breites Grinsen.

"Wehr dich nur. Das wird dir nichts nützen. Im Gegenteil, ich mag das."

Ein lautes Rascheln ließ ihn aufschrecken. Misstrauisch sah er sich um, konnte aber nichts entdecken.

"Nur ein Häschen", sagte er. "Ein ängstliches kleines Häschen. Wie du, meine Kleine."

Er kniete nieder, zog sie an sich, vergrub sein Gesicht in ihrem roten Umhang und atmete tief ein.

"Du riechst noch so jung und unschuldig."

Wie als Antwort ertönte erneut ein lautes Rascheln.

"Der Hund des Jägers!", rief das verstörte Mädchen, plötzlich wieder hoffnungsvoll. Der Mann schnaubte verächtlich, stand aber doch auf. Das Rascheln kam näher und das Mädchen sah, wie er unruhig wurde.

"Komm, nichts wie weg hier!" Er zerrte sie hinter sich her.

Plötzlich sahen sie links neben sich im Gebüsch einen dunklen Schatten huschen. Ein Hund! Das Mädchen jubelte innerlich. Der Jäger würde ihr helfen, sie war gerettet. Sie begann erneut, Widerstand zu leisten. Der Mann drehte sich wütend um und wollte ihr gerade etwas zurufen, als er den dunklen Schatten auf sich zufliegen sah. Erschrocken ließ er die Hand des Mädchens los, das sich in seiner Überraschung nicht schnell genug fangen konnte und rücklings zu Boden stürzte. Mit einem gewaltigen Satz sprang das Tier über sie hinweg und geradewegs dem Mann an die Gurgel, bevor dieser auch nur die Hand heben konnte. Der Schwung riss beide zu Boden und das Mädchen hörte ein hässliches Krachen. Danach war Stille. Der Mann lag auf dem Rücken und rührte sich nicht mehr. Das Mädchen rappelte sich zitternd auf, wagte aber nicht, weg zu laufen. Ihr Blick hing an dem Tier, das sich langsam zu ihr umdrehte. Sie hielt den Atem an, als sie die gelben Augen sah. Der Wolf starrte sie an. Sie war zu keinem Gedanken fähig, schaute wie gebannt in sein Gesicht. Er leckte sich die blutige Schnauze und reckte die Nase witternd nach oben. Dann schaute er wieder zu ihr hin, gab einen komischen Laut von sich, drehte sich um und trottete ins Gebüsch. Sie verfolgte, wie das Strauchwerk hinter ihm zusammenschlug, dann wurden ihre Knie weich und sie sah die Erde auf sich zustürzen. Als sie die Augen wieder aufschlug, schaute sie in das Gesicht des Jägers.

"Der Wolf", flüsterte sie, "der Wolf."

Doch der Jäger hatte die Spuren längst entdeckt. Eilig brachte er sie ins Dorf, um die Verfolgung des Tieres und die Bergung des Toten in die Wege zu leiten.

Das Mädchen war eine Zeit lang krank nach diesem Vorfall. Sie wollte mit niemandem reden oder das Bett verlassen und war in sich gekehrt. Die Eltern waren besorgt, konnten aber nichts machen. Nach drei Wochen bestand die Nachbarin, erneut Witwe, darauf, das Mädchen zu besuchen. Sie wollte endlich etwas wissen über die letzten Stunden ihres Mannes. Als sie sich aus ihrem Umhang geschält und ans Bett gesetzt hatte, weiteten sich die Augen des Mädchens vor Entsetzen. An der Brust der Frau steckte eine Brosche, sternförmig, besetzt mit leuchtend blauen Steinen. Zitternd zeigte sie darauf.

Die Frau war irritiert, sagte aber: "Die habe ich in den Sachen meines Mannes gefunden. Er wollte sie mir wahrscheinlich zum Geburtstag schenken."

Die Erinnerung überwältigte sie und sie fing an, zu weinen. Der Vater des Mädchens führte die schluchzende Witwe wieder hinaus. Seine Frau begleitete sie nach Hause und kümmerte sich, wie schon zuvor, fürsorglich um die Trauernde. Das Mädchen aber verbrachte eine von quälenden Gedanken beschwerte Nacht. Am nächsten Morgen brach sie ihr Schweigen und vertraute ihrem Vater alles an. Den schrecklichen Verdacht, dass der Nachbar die alte Frau ermordet hatte und was vor drei Wochen im Wald geschah. Zu ihrer großen Überraschung reagierte ihr Vater sehr wütend auf ihre Geschichte. Allerdings nicht auf den Mann, sondern auf sie. Entsetzt begriff sie, dass er ihr nicht glaubte. Er war außer sich.

"Wie kannst du solche Lügen erzählen! Das geht entschieden zu weit! Unsere Nachbarn sind rechtschaffene Leute und was erzählst du da für Märchen, du missratenes Ungeheuer. Der Wolf hätte dich fressen sollen", tobte er, während er sie wie verrückt schüttelte. "Wenn du es wagst, auch nur einer Menschenseele von deinen hässlichen Phantastereien zu erzählen, prügele ich dir die Seele aus dem Leib. Du bringst uns noch in Schimpf und Schande, du undankbares Balg. Raus hier, verschwinde in dein Zimmer und komm erst wieder, wenn du deinen Lügengeschichten abgeschworen hast!" Damit stieß er sie zur Tür.

Das Mädchen sprach nie wieder darüber, ganz wie es ihr Vater verlangt hatte. Auch nicht, als die Geschichten über die Ereignisse immer wilder wurden. Sie schwieg, als im Lauf der Jahre der Wolf auch für den Tod der alten Frau verantwortlich gemacht und sie schwieg, als der Jäger plötzlich als ihr Retter verklärt wurde. Nur als sie eines Tages erfuhr, dass man, sogar weit entfernt von ihrem Heimatdorf, von ihr als Rotkäppchen sprach, da verbrannte sie in einer dunklen Nacht den verhassten roten Umhang.



© Evelyne Okonnek
Juni2003