Leseprobe Lumpenliese


Als die Lumpenliese wieder einmal unterwegs war, ohne ein bestimmtes Ziel und ohne eigentlich etwas zu suchen, aber mit offenen Augen und Ohren, um zu sehen, was es zu sehen gab, und zu hören, was es zu hören gab, da kam sie in einen Wald, in dem sie vorher noch nie gewesen war. Sie trällerte ein Liedchen vor sich hin, ein einfaches Lied, das sie manchmal über sich selber sang, und das ging so:

„Die Lumpenliese nenn’ ich mich,

Ich sammle viel Geschichten.

Ich treffe gerne Leute,

Davon will ich berichten.“

Aber während sie noch so sang und trällerte, merkte sie plötzlich, dass ihre Stimme ganz ungewohnt klang – nicht nur hell und ein bisschen piepsig, wie immer, sondern da war noch so eine Art heiseres Krächzen dabei, ein bisschen tief und trotzdem schrill...

Liese konnte sich das gar nicht erklären.

„Ich bin doch nicht erkältet“, dachte sie verwirrt und blieb stehen. Und sie merkte, dass da immer noch etwas weiter sang, obwohl sie den Mund gar nicht aufmachte. Frech klang es, unbekümmert, ein bisschen rau, aber eigentlich sehr nett. Sie schaute sich um, aber sie konnte niemand entdecken, auf dem Weg nicht, weder vor noch hinter sich, hinter keinem Baum und überhaupt nirgends war irgendjemand zu sehen. Auch das Lied hatte jetzt aufgehört.

„Das hab ich mir doch nicht bloß eingebildet!“, sagte sie energisch und versuchte es noch einmal: „Lala lala lala lala...“, sang sie laut mit heller Stimme, und da hörte sie es wieder: „Lala lala lalala...“, krächzte eine raue, aber sehr muntere und fröhliche Stimme.

„Nun will ich aber wirklich wissen, wer hier mit mir Musik macht!“, verkündete die Lumpenliese. „Komm raus und zeig dich, du Sänger!“

„Hier bin ich doch, hier bin ich doch, tralalala, lala, haha!“, kreischte es.

Und da endlich verspürte Liese einen Flügelschlag und schaute nach oben.

„Was bist du denn für ein komischer Vogel?“, lachte sie. „Siehst aus wie ein Rabe mit roten Federn. Und richtig sprechen und antworten und singen kannst du auch. So was hab ich ja noch nie erlebt.“

„Da, wo ich herkomme, da gibt es viel, was du noch nie gesehen und gehört hast. Stimmt es, dass du Geschichten sammelst und gerne Leute kennen lernst?“

„O ja!“, sagte die Lumpenliese. „Das ist sozusagen mein Beruf. Ich bin immer auf der Suche nach Geschichten. Ich treffe Leute und lasse mir von ihnen erzählen, was ihnen so passiert ist, und dann erzähle ich wieder anderen Leuten, was ich gehört und erfahren habe. Du hast mich neugierig gemacht. Was ist denn da, wo du herkommst, so besonders? Und wer bist du überhaupt, und wie heißt du?“

„Ich bin der Rabe Rhabarber, und ich führe dich jetzt in unser Dorf, wenn du willst. Da kannst du dich selber umschauen und neue Bekanntschaften machen“, antwortete der Rabe.

„Sicher will ich mitkommen. Aber ich habe keine Flügel. Also flieg bitte nicht so schnell, ich muss mich hier durch dichtes Unterholz kämpfen!“, rief die Liese ein bisschen atemlos, denn schon flog Rhabarber voran.

Aber bald merkte sie, dass er sich offensichtlich sehr gut auskannte, denn so dicht der Wald auch schien, der Rabe fand immer Stellen, an denen ein Mensch durchkommen konnte. Wenn sie dann aber zurück schaute, konnte sie keinen Durchschlupf mehr entdecken. Einmal blieb sie kopfschüttelnd stehen. Hier war wirklich kein Weiterkommen mehr, das Gestrüpp war einfach zu verwachsen. Während sie nach einer Möglichkeit suchte, drum herum oder daran vorbei zu kommen, bemerkte sie, dass sich doch wieder ein schmaler Pfad geöffnet hatte. Und so ging es weiter und weiter voran, immer tiefer in den Wald hinein. Vor sich sah Liese das dunkelrote Gefieder aufleuchten, und sie folgte dem Raben, ganz gespannt darauf, wohin er sie führen würde.

Als sie einmal stehen blieb, um zu verschnaufen, kribbelte es plötzlich ganz merkwürdig in ihrer Nase, und da fiel Liese erst auf, dass schon seit einer Weile ein zarter, kaum wahrnehmbarer Duft in der Luft war, ein Duft in der Luft... wie eine Mischung aus Zimt und Apfel und Sonne.

Nach dem nächsten Busch lichtete sich der Wald, und da entdeckte Liese das putzigste kleine Häuschen! Ein bisschen windschief war es, es hatte ein ziegelrotes Dach und war quittengelb angestrichen und so anheimelnd, dass Liese gleich hätte einziehen mögen – wenn es nicht so furchtbar klein gewesen wäre! Es reichte ihr ja kaum übers Knie!

War das ein Zwergenhaus, oder gab es hier sogar ein ganzes Zwergendorf? Denn gleich nebenan, halb verdeckt von einem Haselnussstrauch, stand noch so ein Haus. Auch dieses zweite Häuschen – das hellblau gestrichen war – war ein bisschen schief und neigte sich dem gelben Haus zu, so wie das gelbe sich zum blauen hinüber zu recken schien.

Es war gerade so, als ob die beiden Häuser Freunde wären, die sich ein Geheimnis zutuscheln wollten, das nicht für fremde Ohren bestimmt war.


Wer in den Häusern wohnt und ob es dort Geheimnisse gibt, steht in den weiteren Kapiteln meines noch nicht veröffentlichten Buches „Wunderbar, sagte die Hexe“.