Lesepobe Nr. 15


„Da bin ich grade noch davongekommen!“

„Gut hast du das gemacht, Carlo!“ Angelo nickte ihm anerkennend zu. „Bist du bereit für eine neue Entdeckung?“

„Ich brenne schon auf das nächste Abenteuer!“

Carlo schlug die Decke zurück, sprang aus dem Bett und lief die Treppe hinunter.

Ohne zu zögern ging er auf den Vorhang zu, der diesmal anstelle der Tür zum Gästebad flatterte. Ein blütenweißer feiner Spitzenstoff... Das sieht und freundlich und ungefährlich aus, dachte Carlo.



Heiße Luft schlug ihm entgegen. Und er war von Kopf bis Fuß in viele Schichten von Stoff gehüllt! Muss das sein?, dachte Carlo. Bei der Hitze reiße ich mir doch lieber die Kleider vom Leibe. Und er begann, die ungewohnten Tuchhüllen abzuwickeln.

„Tu das besser nicht, Carlo!“, warnte Angelo. Auch der war genauso verpackt. Trage ich auch eine merkwürdige Kopfbedeckung wie Angelo? Carlo fasste sich an den Kopf. So eine Art Handtuch mit Stirnband? Offensichtlich…

„Aha“, bemerkte er fachmännisch, „diesmal sind wir also in der Wüste gelandet. Wo ist mein Kamel? Hoffentlich treffen wir auf eine Oase und geraten nicht in einen Sandsturm! Und eine Fata Morgana würd ich zwar gern mal erleben, aber ich möchte nicht verdursten, weil es sich bloß um eine Luftspiegelung handelt und in Wirklichkeit gar kein Wasser da ist…“

Angelo lachte. Sein Grübchen verschwand fast hinter der „Handtuchkopfbedeckung“, die er trug.

„Du kennst dich ja gut aus, Carlo, du klingst wie ein Experte. Also viel Glück, dann kann ich dich deinem Schicksal überlassen.“

Mit diesen Worten verschwand Angelo, geradeso, als ob er nur die besagte Fata Morgana gewesen wäre.

Carlo sah sich um.

Sand und Himmel, weiter war nichts zu sehen. Wunderschön fand Carlo diese beiden Farben, so ein leuchtendes Blau und ein warmes Beige.

Aber bin ich denn hier ganz allein?, fragte er sich. Bin ich nicht mit einer Karawane unterwegs? Reit- und Lastkamele, Kameltreiber, Kaufleute, der Karawanenführer… Wo sind die alle? Ich kann doch nicht ganz allein zu Fuß durch die endlose Wüste wandern, bis ich eine Oase, eine Stadt oder wenigstens eine Reisegruppe finde, der ich mich anschließen kann!

Ganz ruhig, Carlo, sagte er sich. Angelo hätte dich bestimmt nicht einfach dir selber überlassen, wenn er nicht wüsste, dass du damit fertig wirst. Nicht wahr, Angelo?, dachte er. Und er schickte ein Stoßgebet in den blauen Himmel hinauf und bat um eine Eingebung.

Doch der Himmel blieb strahlend schön – und stumm.

Die Sonne brannte auf dem Gesicht. Gab es denn hier wirklich nirgends Schatten?

Und wo soll ich hinlaufen, dachte Carlo, ich hab ja keine Ahnung, in welcher Richtung ich überhaupt etwas finden kann… Da kann ich doch geradeso gut einfach hier bleiben und mich in den Sand setzen. „In den Sand setzen“, wäre ja lustig, wenn die Lage nicht so ernst wäre. Ohne Wasser allein in der Wüste. Und nachts soll es eiskalt werden, hab ich gehört. Oje, immer diese Abenteuer…

Carlo setzte sich in den Sand, mit dem Rücken gegen einen Hügel, das Gesicht von der Sonne abgewandt. So fühlte er sich doch ein bisschen geschützter.

Er wartete ab. Da er nicht wusste, was er tun sollte, blieb er lieber hier sitzen und vergeudete nicht noch Energie, indem er sinnlos herumlief.

Er sah sich an, wie die Sandhügel scharfe Konturen gegen den Himmel malten. Er studierte die Rillen im Sand, die offensichtlich Spuren von Verwehungen waren. Aber nirgends gab es einen Hinweis auf Leben, Wasser, Oasen...
Sechzehn. Mist

Carlo hatte kein Gefühl dafür, wie lange er nun schon so dagesessen hatte. Es hätte eine halbe Stunde sein können oder auch fast ein ganzer Tag.

Nein, so lange nicht, denn dann hätte es ja inzwischen dunkel werden müssen, und er hätte auch mehr Durst gekriegt.

Als er jetzt daran dachte, fühlte er, wie ausgetrocknet seine Kehle war. Er schluckte – mühsam war das, hart und fest wie ein heißer Backstein im Hals.

Nun kam es Carlo vor, als müsse er nur an die Schrecken der Wüste denken, da traten sie auch schon ein: der übergroße gierige Durst – und die Nacht in der Wüste. Denn jetzt war es ganz deutlich: das Licht veränderte sich, es wurde Abend.

Carlo bekam Angst. Die Nacht einsam in der Wüste verbringen, ohne Wasser, ohne Zelt? Ganz allein? Er war doch ein Kind!

Trotzdem bemerkte er noch, wie schön es war: Der Himmel sah durchscheinend aus, tiefdunkelblau, ganz fern und doch klar und deutlich und wie zum Anfassen nah. Doch rasend schnell wurde er dunkler und immer dunkler. Und die Sterne erschienen... Solche Sterne hatte Carlo noch nie gesehen. Sie strahlten und funkelten, und es waren so viele, so unendlich viel...

In all seiner Angst wurde ihm plötzlich ganz feierlich zumute.

Aber was nützt mir das? Ich hab solchen Durst, ich muss bestimmt dran sterben, oder sonst bringt mich die kalte Wüstennacht um, ach Angelo, diesmal hättest du mich nicht allein lassen dürfen! Was würdest du mir jetzt raten, du, Angelo, mit deinem frechen Grübchen? Hier gibt es nichts zu lachen!

Je mehr Carlo an seinen Durst dachte, desto schlimmer wurde er. Je mehr er an die Kälte in der nächtlichen Wüste dachte, desto mehr zitterte er.

Ich denke an etwas anderes, beschloss er. Aber er kam nicht von der Wüste und ihren Gefahren los. Er konnte sich kein Bad zuhause, keine riesengroße Mineralwasserflasche, kein warmes Bett ausmalen.

Doch ganz plötzlich stellte er sich eine Karawane vor, mehrere Männer auf Kamelen, auch Packtiere waren dabei, und vorne ritt der Anführer der Karawane, der den Weg genau kannte. Carlo lächelte. Ein Ritt durch die nächtliche Wüste, ohne Durst und Angst und in Gesellschaft, ja, das muss schön sein, dachte er. Ihm wurde sogar ganz warm von der Vorstellung.

Sein Körper begriff es vor seinem Verstand. Die Wärme breitete sich weiter aus, sein Herz begann heftig zu schlagen:

Ja, er war gerettet!

Wie eine Fata Morgana tauchte vor ihm ein einzelnes Kamel auf und ließ sich auf die Vorderbeine nieder, um ihn aufsitzen zu lassen. Diese Fata Morgana löste sich nicht wieder in Nichts auf, sondern ließ zunächst einmal ganz körperlich einen großen Dunghaufen fallen. Carlo lachte auf und spürte, wie ihm dabei der trockene Hals wehtat. Er bemerkte den Wasserschlauch am Sattelknauf. Gierig löschte er seinen Durst. Die ersten Schlucke taten weh, und dennoch war es eine Wohltat zu spüren, wie die Flüssigkeit die Kehle hinunterlief.



„Hast du Fieber, Carlo? Geht’s dir nicht gut?“

Die Mutter schien besorgt.

„Nein, ich hab wohl nur ziemlich geschwitzt unter der dicken Winterdecke, und nun brauch ich einfach ganz viel zu trinken!“, erklärte Carlo und leerte sein Glas bereits zum dritten Mal. Das Mineralwasser war frisch und spritzig, und trotzdem hatte ihn das brühwarme abgestandene Wasser in der Wüste mehr erfrischt.


Sechzehn. Mist

Carlo hatte kein Gefühl dafür, wie lange er nun schon so dagesessen hatte. Es hätte eine halbe Stunde sein können oder auch fast ein ganzer Tag.

Nein, so lange nicht, denn dann hätte es ja inzwischen dunkel werden müssen, und er hätte auch mehr Durst gekriegt.

Als er jetzt daran dachte, fühlte er, wie ausgetrocknet seine Kehle war. Er schluckte – mühsam war das, hart und fest wie ein heißer Backstein im Hals.

Nun kam es Carlo vor, als müsse er nur an die Schrecken der Wüste denken, da traten sie auch schon ein: der übergroße gierige Durst – und die Nacht in der Wüste. Denn jetzt war es ganz deutlich: das Licht veränderte sich, es wurde Abend.

Carlo bekam Angst. Die Nacht einsam in der Wüste verbringen, ohne Wasser, ohne Zelt? Ganz allein? Er war doch ein Kind!

Trotzdem bemerkte er noch, wie schön es war: Der Himmel sah durchscheinend aus, tiefdunkelblau, ganz fern und doch klar und deutlich und wie zum Anfassen nah. Doch rasend schnell wurde er dunkler und immer dunkler. Und die Sterne erschienen... Solche Sterne hatte Carlo noch nie gesehen. Sie strahlten und funkelten, und es waren so viele, so unendlich viel...

In all seiner Angst wurde ihm plötzlich ganz feierlich zumute.

Aber was nützt mir das? Ich hab solchen Durst, ich muss bestimmt dran sterben, oder sonst bringt mich die kalte Wüstennacht um, ach Angelo, diesmal hättest du mich nicht allein lassen dürfen! Was würdest du mir jetzt raten, du, Angelo, mit deinem frechen Grübchen? Hier gibt es nichts zu lachen!

Je mehr Carlo an seinen Durst dachte, desto schlimmer wurde er. Je mehr er an die Kälte in der nächtlichen Wüste dachte, desto mehr zitterte er.

Ich denke an etwas anderes, beschloss er. Aber er kam nicht von der Wüste und ihren Gefahren los. Er konnte sich kein Bad zuhause, keine riesengroße Mineralwasserflasche, kein warmes Bett ausmalen.

Doch ganz plötzlich stellte er sich eine Karawane vor, mehrere Männer auf Kamelen, auch Packtiere waren dabei, und vorne ritt der Anführer der Karawane, der den Weg genau kannte. Carlo lächelte. Ein Ritt durch die nächtliche Wüste, ohne Durst und Angst und in Gesellschaft, ja, das muss schön sein, dachte er. Ihm wurde sogar ganz warm von der Vorstellung.

Sein Körper begriff es vor seinem Verstand. Die Wärme breitete sich weiter aus, sein Herz begann heftig zu schlagen:

Ja, er war gerettet!

Wie eine Fata Morgana tauchte vor ihm ein einzelnes Kamel auf und ließ sich auf die Vorderbeine nieder, um ihn aufsitzen zu lassen. Diese Fata Morgana löste sich nicht wieder in Nichts auf, sondern ließ zunächst einmal ganz körperlich einen großen Dunghaufen fallen. Carlo lachte auf und spürte, wie ihm dabei der trockene Hals wehtat. Er bemerkte den Wasserschlauch am Sattelknauf. Gierig löschte er seinen Durst. Die ersten Schlucke taten weh, und dennoch war es eine Wohltat zu spüren, wie die Flüssigkeit die Kehle hinunterlief.



„Hast du Fieber, Carlo? Geht’s dir nicht gut?“

Die Mutter schien besorgt.

„Nein, ich hab wohl nur ziemlich geschwitzt unter der dicken Winterdecke, und nun brauch ich einfach ganz viel zu trinken!“, erklärte Carlo und leerte sein Glas bereits zum dritten Mal. Das Mineralwasser war frisch und spritzig, und trotzdem hatte ihn das brühwarme abgestandene Wasser in der Wüste mehr erfrischt.