Leseprobe 

Geranienblut


Mutter sagt es nicht, aber ich weiß: Sie hat Angst.

Der Krieg kommt.

Vater lacht so grimmig, wenn er sonntags aus dem Grünen Baum kommt.



Der Krieg ist stolz.

Der Krieg macht Männer stolz.

Sie stehen auf der Straße zusammen, zu zweien, zu dreien und manchmal mehr.

Sie stehen gerade und sehen entschlossen aus und haben so ein Leuchten in den Augen.

Vaters Stimme ist lauter als sonst.

Mutter gibt ihm Zeichen: „Nicht vor den Kindern“, soll das heißen.

Aber ich höre doch, was die Männer sagen: „Denen werden wir es zeigen!“



Ich möchte lieber den Männern glauben. Die fürchten sich nicht vor dem Krieg. Auch die großen Buben fühlen sich schon wichtig. Sie warten darauf, dass sie mit den Männern in den Krieg dürfen.

Ich bin ein Mädchen. Mädchen müssen zur Schule gehen und zu Hause ihre Pflicht erfüllen.

Wir müssen jetzt alle unsere Pflicht erfüllen. Aber die Männer und Buben tun es lieber als die Frauen.

Der Krieg ist groß und schwarz und schwer. Er ist aus Eisen und Bomben.

Der Krieg bringt Hunger.

Er ist blutig.

Ich habe noch nie Angst vor Blut gehabt.

Wenn ich mir ein Knie aufgeschlagen oder in den Finger geschnitten habe, dann hat Mutter ein Pflaster drauf geklebt und es heilte.

Aber das Blut im Krieg ist gefährlich. Ich will nicht an das Blut denken.



Wir machen abends die große Lampe nicht mehr an. Wir schließen die Fensterläden. Damit der Feind uns nicht sieht.

Aber jetzt blühen überall die Geranien. Die leuchten am Tag. So rot wie Blut.

Wird der Feind das Leuchten nicht sehen?

Ich hatte Geranien immer gern. Aber jetzt mache ich die Augen zu. Ich will die Geranien nicht sehen. Ich muss an das Blut denken, wenn ich sie sehe.



Ich möchte Vater glauben, dass der Krieg stolz und groß und ein Abenteuer ist.

Aber Mutter ist so blass.

Sie lacht nicht mehr. Sie singt nicht mehr beim Kartoffelnschälen.

Wahrscheinlich ist das gut. Wenn man lacht und singt, kann einen der Feind hören.



Ich möchte, dass alles still und grau ist.

Ich schreie auch nicht mehr und renne nicht mehr.



Ich habe die Geranien vor unseren Fenstern ausgerupft. Mutter war mir nicht böse. Sie hat gelächelt. Sie wollte das Geranienblut wohl auch nicht mehr sehen. Ich bin froh, dass ich ihr eine Freude gemacht habe.