Kevin


Ich bin Kevin gleich zweimal begegnet.
Beim ersten Mal war ich nicht eben besonders beeindruckt von der Vorstellung, die er den braven Hausfrauen, eiligen Rentnern und Arbeitslosen unseres kleinen Ortes bot, als er an der Supermarktkasse stand und feststellte, daß ihm genau 14 cent fehlten, um die Waren in seinem Einkaufswagen mitnehmen zu dürfen.
Während wir – s.o. benannte Sorte von Menschen und ich – also mit wachsender Gereiztheit in einer strammen Reihe hinter ihm standen und jeder für sich im Kopf durchging, was er jetzt täte an dessen Stelle, legte Kevin, damals für mich nur ein Trottel von Jesuslatschenträger oder - etwas milder ausgedrückt - ein tölpelhafter Umstandspinsel, seine hohe Stirn in Falten und sortierte Stück für Stück seiner Waren, wobei er überlegte, von welchem er sich eventuell trennen könne, ohne Schaden zu nehmen.
Die Verkäuferin an der Kasse rollte mittlerweile bereits die Augen und trommelte nervös auf die Tastatur ihrer Computerkasse.
Ich betrachtete mit zunehmendem Ärger diesen seltsamen Vogel, und irgendwo am Stauende fragte ein übellauniger Mittsechziger lautstark mit sich leicht überschlagender Stimme – wahrscheinlich hatte er sich in der Tonhöhe vergriffen – ob es nicht endlich weiterginge.
Der hochgewachsene Jüngling vor mir mit seiner Harry Potter Brille blickte bedauernd zurück und bat um etwas Geduld.
„Vielleicht könnte mir jemand diese 14 cent ausleihen,“ ließ er sich sodann zum allgemeinen Erstaunen des Publikums vernehmen, und in seiner Stimme schwang ein leiser Zweifel , während er mich eindringlich fixierte.
Meine Miene blieb unbeweglich, und ich sah demonstrativ auf meine Armbanduhr.
Die Masse hinter mir regte sich nicht. Betont gleichgültige, steinerne Blicke trafen ihn.
Fast tat er mir leid, aber ich war trotzdem nicht geneigt, den barmherzigen Samariter zu spielen. Außerdem interessierte es mich mehr und mehr, wie es hier an dieser verdammten Kasse 4 weitergehen würde.
Ganz hinten wanderten bereits einige Einkaufswagenschieber unter ärgerlichem Gemurmel ab. Die Hausfrau hinter mir rückte nun endlich wagemutig mit einem wertvollen Ratschlag heraus: „Lassen Sie doch den Reis da!“ „Oder den Orangensaft!“ ergänzte ich nach einiger Zeit des Überlegens.
Lebhaft wandte er sich mit einem dankbaren Lächeln an uns: „Natürlich habe ich erwogen, etwas hier zu lassen, aber bedauerlicherweise brauche ich alles.“
Wir stöhnten. „Sollen wir vielleicht für Sie sammeln?“ fragte eine männliche Stimme ironisch.
Ich war sofort bereit, 4 cent beizusteuern. Kevin rang sichtlich mit sich, blickte dann die Kassiererin verzweifelt an und gab ihr zu verstehen, daß er angesichts der peinlichen Sachlage außerstande sei, den Handel zur allseitigen Zufriedenheit abzuschließen. Er entschuldigte sich wortreich bei der fassungs- und sprachlosen Verkäuferin, versprach am nächsten Tag mit ausreichendem Bargeld den Einkauf nochmals vorzunehmen und enteilte mit zart gerötetem Gesicht und fliegendem Pferdeschwanz. Ich grinste innerlich. „So ein Filou!“
Nach etwa 5 – 10 Schocksekunden polterte die Kassiererin mit bemerkenswerter Heftigkeit los und hatte einige Mühe, die Kasse für uns wieder flott zu machen.
Leben kehrte auch in die versteinerten Mienen der Kunden zurück. Jeder wußte sich Luft zu machen und kommentierte temperamentvoll das ungewöhnliche Verhalten dieses ... nana ... was hörte mein entzündetes Ohr ... schwul sah er wahrhaftig nicht aus. Und überhaupt! Diese dummen Diskriminierungen machen mich immer ganz aggressiv. Und so blickte ich diese Altrüpel, diese Oberspießer strafend an und runzelte dabei finster meine Stirn. Innerlich knurrte ich und fletschte mein Gebiß.
Diesen Vorfall hatte ich nach kurzer Zeit längst vergessen, als ich eines schönen Samstagvormittags – ich führte gerade Oskar, meinen Riesenschnauzer leinenlos im Wald Gassi – von einem großen, schlanken Jogger überholt wurde.
Oskar heftete sich sofort an seine Fersen und bellte begeistert, was dem Läufer wohl einiges Mißvergnügen zu bereiten schien. Jedenfalls verlangsamte er sein Tempo und blieb zu Oskars Enttäuschung schließlich stehen.
Ich wollte schon meinen Standardsatz: „Der tut nichts!“ von mir geben, als ich ihn wiedererkannte und mir stattdessen entfuhr: „Ach, Sie sind doch der 14 cent – Typ von neulich!“ Er lächelte verlegen und entgegnete: „Ich heiße Kevin.“ „Was,“ platzte ich heraus, „Kevin? Wie kann man nur Kevin heißen?“ „Nun,“ meinte er gelassen und kraulte Oskar sanft hinter den Ohren, „es gibt Schlimmeres!“ „Wohl wahr,“ stimmte ich ihm vielsagend zu. „Da haben Sie ja kürzlich eine tolle Nummer abgezogen!“ Er sah mich nun ernst aus seinen klugen, braunen Augen an. „Sind Sie der Ansicht, man müsse immer genauso handeln, wie andere es von einem erwarten?“ Ich schaute ein wenig verdutzt, überlegte und mußte zugeben, daß es ihm zustehe, so zu handeln, wie er es für richtig halte. Es sei schließlich niemand zu Schaden gekommen.
Bald hatten wir nun dieses Reizthema abgehakt. Doch statt seinen Lauf wieder aufzunehmen, gefiel es ihm, Oskar und mich zu begleiten, was uns ganz und gar nicht unlieb war.
Er erwies sich eigentlich als ganz normal und sehr unterhaltsam.
So erfuhr ich, daß er seit einem halben Jahr als Zivi im Alters- und Pflegeheim arbeitete, daß er vorhabe, Bildhauer zu werden, daß er als Gitarrist in einer Band spielte und aus der Lüneburger Heide stammte.
Zurück auf dem Waldparkplatz stellten wir dann fest, daß wir beide einen Twingo fuhren, diesen kleinen französischen Flitzer aus dem Hause Renault. Das mußte begossen werden.
Und so zogen wir in die nächste Gaststube. Oskar schlappte Leitungswasser pur, während wir bei einem Hefeweizen auf unsere neue Freundschaft anstießen.

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