Spinne im Ohr


Eleni fühlte sich wie neu geboren. Endlich war nun alles vorbei. Sie konnte es kaum fassen.

Jahrelang hatte das Martyrium angedauert ohne daß es ihr gelungen wäre, sich daraus zu befreien. Das Schlimmste war, sie hatte sich niemanden anvertrauen können. "Was, einen kleinen Mann im Ohr?" hätten sie gelacht "Ich glaube, du spinnst. Einen Seelenklemptner solltest du aufsuchen! Damit wäre dir und uns geholfen..."

Tatsächlich hatte sie zwischendurch erwogen, einen Psychiater aufzusuchen, aber die Angst, in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt zu landen, hielt sie davon ab, auf ihr Problem aufmerksam zu machen.

Und wie einfach dann doch alles gewesen war! Eine kleine Notlüge schon genügte, und sie war den kleinen Mann mitsamt seiner Hängematte los. Und – sie lachte hell auf – sie ließ einen völlig verdatterten Arzt zurück, der der felsenfesten Überzeugung war, ihr eine Spinne samt Netz aus dem Ohr entfernt zu haben.

Eleni lenkte ihr kleines Fahrzeug aus der lärmenden stinkenden Stadt hinaus in Richtung des Klosters Moni Dafin, wo ein einsames Plätzchen im Wald auf sie wartete. Hier wollte sie noch einmal an ihr bisheriges Leben zurückdenken, an den kleinen Mann, der weder Freunde noch Sonstiges neben sich duldete und sie fast in den Wahnsinn getrieben hatte.

Es begann vor etlichen Jahren, als die junge Frau in der Gaststätte ihres Onkels als Bedienung und Mädchen für alles in einem kleinen verschlafenen Nest in Süddeutschland arbeiten mußte.

Ihre knapp bemessene Freizeit verbrachte sie oft allein in ihrem Zimmer oder sie durchstreifte die nahen Felder und Wiesen, stets begleitet von einem heftigen Heimweh nach Griechenland, nach ihrer Familie, ihren Freunden.

Sie konnte sich noch gut an diesen einen bestimmten Tag erinnern, als sie im hohen Gras lag, umgeben vom friedlichen Lärm summender und brummender Insekten, als plötzlich ein schriller Ton nadelgleich in ihr Ohr stach. Sie sprang mit einem Schrei auf und preßte ihre Hand auf das schmerzende Ohr. "Aufmache!" war nun ganz deutlich eine brüllende Zwergenstimme zu hören. Erschrocken riß sie die Hand vom Ohr. "Wer bist du?" stammelte sie reichlich verwirrt. "Ich bin dein kleiner Mann im Ohr!" erklärte die Stimme und klang dabei recht selbstgefällig. "Ich bewohne die Ohren von Menschen, die sich allein fühlen und nicht mehr weiter wissen." "Bist du die Stimme meines Gewissens?" fragte Eleni hoffnungsvoll, obgleich sie sich in diesem Fall eher eine weibliche Stimme hätte vorstellen können.

Der Mann im Ohr lachte hämisch. "Wohl eher nicht, sogar eher das Gegenteil", feixte er. "Bist du ein Ratgeber?" war Elenis nächste Frage, denn sie mußte unbedingt wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Der kleine Mann kreischte vor Vergnügen. "So kannst du es sehen," lachte er. " Man nennt mich den Tyrannen, den Bestimmer. Ich bestimme jetzt, wo's lang geht." Nun mußte auch Eleni lachen. "Du willst mir befehlen?" Ich denke gar nicht daran, mir auch noch von dir auf der Nase herum tanzen zu lassen," fügte sie entrüstet hinzu. "Nicht auf der Nase, im Ohr, meine Liebe," entgegnete der Wicht. "Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Manche nennen mich auch liebevoll den kleinen Spinner."

Nach diesem äußerst kuriosen Vorstellungsgespräch fing er fürchterlich im Ohr an zu rumpeln. Er wolle sein neues Wohngebiet erforschen, meinte er und war kurze Zeit darauf weder zu hören noch sonst irgendwie zu bemerken. Eleni glaubte nur geträumt zu haben, war darüber sehr erleichtert und beschloß dieses seltsame Erlebnis zu vergessen.

Nicht aber der kleine Mann, der im übrigen Hubert genannt werden wollte. Hubert machte es sich im äußeren Gehörgang bequem, wechselte auch mal das Ohr, um sich nichts entgehen zu lassen, rutschte auf dem Ohrenschmalz bis zum Trommelfell, benutzte dieses wie ein Trampolin , federte zurück, hing schon einmal an einem Ohrring, wo er sich krampfhaft festhielt und vollführte auch sonst gern allerlei sportliche Übungen. Für seine Ruhephasen spann er sich eine Hängematte. Als Spinner hatte er damit kein Problem. Unangenehm – zum Glück selten – nahm Hubert ein Bad im Mittelohr gleich zwischen Trommelfell und Ohrtrompete, was für Eleni mit starker Erkältung und Hörbeeinträchtigung verbunden war. Ihr Arzt riet ihr daraufhin, die Ohren stets gut durchzulüften, um den Druck auszugleichen.

Ach – wenn sie doch nur den ekelhaften kleinen Mann mit aus und weg, ex und hopp lüften könnte.

Aber da bestand keine Chance. Denn wenn Hubert eine Gefahr witterte, zog er sich eilig in die Hörschnecke zurück, was bei Eleni leichtes Schwindelgefühl auslöste. So wußte sie wenigstens, wo er sich gerade aufhielt.

Immer wieder – und immer wieder umsonst hatte Eleni versucht, Hubert loszuwerden. Sie badete mal heiß, mal kalt, ließ die Ohren stundenlang unter Wasser, stocherte mit Wattestäbchen in den Gehörgängen herum bis ihre Trommelfelle schmerzten. Aber Hubert war auf der Hut. Nichts konnte ihn vertreiben. Im Gegenteil. Das Spiel amüsierte ihn von Mal zu Mal mehr. Auch Elenis frommer Wunsch , er möge dem Mann im Mond Gesellschaft leisten - der würde sich sicher freuen, stieß bei Hubert auf taube Ohren.

Nach seinem Einzug begann Hubert gleich am nächsten Tag mit seiner Arbeit. Eleni wurde fortan ununterbrochen mit verrückten Einfällen bombardiert, denen sie sich unablässig vehement erwehren mußte.

Das führte bei Hubert zu Tobsuchtsanfällen, die ihr den letzten Nerv raubten und mit der Zeit heftige Kopfschmerzen verursachten. Immer häufiger zog sie sich blaß und erschöpft in ihr Zimmer zurück, schaffte kaum ihre Arbeit recht und schlecht, so daß des Onkels Auge nach einer Weile halb besorgt, halb mißtrauisch auf ihr ruhte.

Schließlich resignierte sie eines Tages und begann auf den kleinen Mann im Ohr zu hören.

Von da an wurde er umgänglicher, sprach sanfter zu ihr, wenngleich seine Befehle deshalb nicht weniger unartig oder gar bösartig ausfielen.

So gab sie einem Gast, der sich anschickte, den Gasthof zu verlassen, einen tüchtigen Klaps auf den Po mit der Bemerkung:" Na, Opa, hast ein strammes Höschen an heute. Beehr uns bald wieder!" Der Gast eilte verschreckt von dannen und wurde nie mehr gesehen.

Der Onkel runzelte erzürnt die Stirn. Eleni und Hubert aber freuten sich. Eleni wurde zunehmend kecker. Mal trank sie, wenn sie an einem der Gästetische vorbeikam , einen Schluck Wein aus dem Glas eines Gastes oder je nach dem nahm sie auch gern ein Schlückchen Bier hier und da.

Diese Scherze waren zunächst noch harmlos und konnten Eleni erheitern. Aber es blieb nicht dabei.

Eleni färbte sich die Haare grasgrün und band sich täglich neue Blumenkränze hinein.

Der Onkel drohte. Eleni blieb scheinbar unbeeindruckt, denn Hubert hatte ihr schon tagelang eingehämmert, daß der Onkel ein alter Lump sei, der ihre Arbeitskraft schamlos ausnutzen würde ohne sie ausreichend zu entlohnen. Sie glaubte ihm und fand es bald in Ordnung, sich mit ein paar Späßen schadlos zu halten.

Sie zog zwei unterschiedliche Schuhe an, links einen Pantoffel, rechts eine Stiefelette. Sie bediente die erstaunten Gäste im Nachthemd, zu dem sie einen flotten Gürtel trug. Ihr äußeres Erscheinungbild wurde zunehmend befremdlicher.

Der Onkel wußte weder aus noch ein und redete ihr mehrfach ins Gewissen, wovon sie aber kaum etwas mitbekam, denn Hubert redete permanent dagegen an. Von diesem Stimmengewirr bekam sie heftige Kopfschmerzen. Das war das ganze Resultat.

Nachdem sie dann einige Male die Essen und Getränke falsch abgerechnet hatte und auch der Kasseninhalt nicht mehr sicher vor ihr war, verbannte der Onkel sie zum Leidwesen des Kochs in die Küche.

Dort verging sie sich an den Gästemahlzeiten, nagte hier an einem Schnitzel, zerpflückte das Gemüse, verzierte die Salate mit Majonnaisekringeln und spuckte hin und wieder einen Kaugummi in die Töpfe.

Der Onkel stand kurz vor dem Herzinfarkt. Er gab Eleni eine letzte Chance als Reinemachefrau.

Ihre Aufgabe bestand nun darin die Gästezimmer zu reinigen mitsamt dem Klo und Bad. Auch hier war Hubert in seinem Element. Er stachelte Eleni an, nasse Schwämme unter die Bettdecke zu legen, Lachsäcke unter die Kopfkissen zu verstecken und Reißnägel unter die Bettlaken zu plazieren. War ein Gast gerade nicht anwesend, durchwühlte sie seine Kleidung und probierte sie an, besprühte sie mit Eau de Cologne unterschiedlichster Duftnoten und gewöhnte sich daran, ab und zu ein Nickerchen in einem der Gästebetten abzuhalten.

Als sie schließlich auch noch begann nachts schreiend durchs Haus zu laufen, weil Hubert ihr glaubhaft machen konnte, daß unter den Gästen Mörder lauerten, die einen günstigen Moment abpassen wollten, um sie zu ermorden, war Onkels Geduld am Ende.

Er schrieb den ahnungslosen Eltern einen Brief nach Griechenland und bat sie, ihre Tochter möglichst bald abzuholen. Sie sei vom Teufel besessen, was in gewisser Weise auch stimmte, davon wußte der Onkel aber nichts.

So reisten die besorgten Eltern eines Tages an und nahmen Eleni wieder in ihre Obhut. Eleni war sehr froh darüber und schien einige Tage ruhig und glücklich zu sein.

Hubert verhielt sich abwartend. Seine Einfälle wurden ihm selbst allmählich langweilig, und er erhoffte sich mit Elenis Abreise nach Griechenland ein neues besseres Betätigungsfeld. Zwar hatte er Eleni Küchenmesser schwingend durch die Räume stürzen und "Mörderbande" schreien lassen, aber das konnte niemanden mehr beeindrucken.

In Griechenland dann kam alles ganz anders. Eleni lebte im Haus ihrer Eltern mitten in Athen, wo sie bald einen Teilzeitjob als Taxifahrerin annahm.

Hubert geriet in Schwierigkeiten. Seine Terrorversuchen schlugen fehl und zeigten auf Eleni nicht die gewünschte Wirkung. Auch seine Schreiattacken, die früher effektvoll die Stimmung anheizten, machten auf Eleni keinen Eindruck. Sie reagierte ausgesprochen gelassen, nahm Wattebäuschchen und verstopfte damit ihre Ohren. Hubert verfiel in melancholische Ratlosigkeit. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er mußte sich auf eine andere Sprache einstellen, der Lärm, die Menschen- und Fahrzeugmassen waren ihm fremd. Auch Eleni veränderte sich von Tag zu Tag. Sie war nicht mehr einsam, kannte eine Unmenge von Leuten, blühte merklich auf und war immer schwerer in den Griff zu kriegen. Je fröhlicher sie wurde, desto trübsinniger wurde er. Immer seltener konnte er einen Erfolg für sich verbuchen. Eleni lehnte sich sogar gegen ihn auf.

So begann er seine Taktik zu überdenken und sie einstweilen in Sicherheit zu wiegen, wobei er allerdings täglich umso wütender tobte und rumorte, in den Gehörgängen, im Mittelohr und in der Hörschnecke herumturnte, um ihr wenigstens einen ordentlichen Kopfschmerz zu bescheren und um nicht in Vergessenheit zu geraten. Das war seine größte Sorge und nagte an seinem angekratzten Selbstwertgefühl.

Oft lag er auch dösend in seiner Hängematte und träumte von alten Zeiten. Vielleicht – dachte er zuweilen – sollte er ausziehen und ein anderes einsames Ohr suchen.

Diesen Gedanken mochte er auch nachgehangen haben, als Eleni eines Tages eine bitter schmeckende Flüssigkeit ins Ohr träufelte, was ihn völlig überraschend traf. Von oben bis unten durchnäßt hustete und prustete er, versuchte wieder auszuspucken, was er versehentlich geschluckt hatte und klammerte sich dabei krampfhaft an der Hängematte fest, um nicht herausgeschwemmt zu werden.

Doch nicht lange und er glitt unversehens in einen tiefen friedlichen Schlummer.

Was war geschehen?

Eleni hatte Schlaftabletten in warmen Wasser aufgelöst und die Lösung mit Hilfe einer Pipette ins Ohr geleitet.

Sogleich schwang sie sich auf ihren Freizeitroller und suchte den nächstbesten Halsnasenohrenarzt auf, dem sie über heftige Kopf -und Ohrenschmerzen klagte. Bei der folgenden Untersuchung stellte der Arzt überrascht fest, daß sie eine Spinne mitsamt einem Spinnennetz im Ohr beherbergte.

Dieser ungewöhnliche Fall kam der stets neugierigen Presse zu Ohren, die sofort folgende sensationelle Meldung verbreitete:

"Spinne nistete sich im Ohr ein

Athen. Wegen Kopfschmerzen war eine 33-jährige Griechin zum Arzt gegangen – und als dieser seine Patientin untersuchte, staunte er nicht schlecht: Im Ohr der Frau entdeckte er eine Spinne...."

Aber Eleni wußte es besser. Schade nur, daß sie nicht schon früher auf diesen genialen Einfall gekommen war. Einiges wäre ihr erspart geblieben. Doch damals war Hubert zu stark und mißtrauisch. Er hätte nicht mitgespielt.

Eleni lächelte. Ein schlimmer Traum mit Happy End!

Sie erhob sich. Es wurde Zeit heimzufahren.

Doch plötzlich – was war das? Ganz deutlich vernahm sie ein leises Ächzen und Stöhnen. Etwas bewegte sich in ihrem linken Ohr. "So leicht wirst du mich nicht los," hörte sie das schwache dünne Stimmchen des kleinen Mannes. "Eine Spinne läßt sich vielleicht schnell verscheuchen, aber mich vermag niemand zu vertreiben!" Er lachte angestrengt. "Aber sehr trickreich, das kleine Manöver! Du wirst mir langsam ebenbürtig." "Dann geh doch endlich fort", fauchte Eleni und brachte ihren Motorroller in Gang. "Bei mir jedenfalls wird es für dich in Zukunft sehr ungemütlich."

Sie brauste wütend davon und Hubert dachte sehr ernsthaft über eine Luftveränderung nach.



Lili Horn
Juni 2002