Grillen im Tal


Sauber liegt es da, friedlich,
kann kein Wässerchen trüben, auf halber Höhe eingenistet inmitten von Äckern, Wiesen und Wäldern , angeschmiegt an die Alb , dahinter die Burg auf dem Zeugenberge – das Dorf.

Doch was bedeutet schon friedlich? Wann war jemals etwas friedlich? Die heile Welt der Gartenzwergblumenbeetidylle vielleicht - und dahinter?

Hebt man die Dächer der Häuser auf und tut einen tiefen Blick ins Innere, so prallt man zurück hier und da, denn dunkle Geheimnisse von gestern und heute liegen stinkenden Geschwüren gleich fiebernd unter lächelnder Fassade.

Wie nebelgraue Wolkendecken schwer auf farbiger Blumenpracht lasten, so lastet das trübe Schweigen wirrknotiger Gedanken und übler Taten auf jedem Haus, dessen Fenster dich anblicken mit unschuldhafter Verschlagenheit. „Komm nur herein, Fremder,“ locken sie und lächeln hinter vorgehaltener Hand, boshaft und taxierend, was es denn lohne, sich mit Fremden abzugeben. Und so lenkt er denn unbeschwert seine Schritte in die Gassen, nimmt erstaunt wahr, wie sie - sich krümmend - den Trottoir fegen und von unten ihn beäugen in scheinbarer Gleichmut.

Nicht einmal der Hahn auf dem Mist vermag ihn zu warnen.

Noch kann er umkehren, noch können seine Beine ihn aus dem Labyrinth engmaschiger Menschengeflechte hinaustragen ins Freie, doch er ahnt nicht die Gefahr, er riecht sie nicht hinter den Türen lauernd, hungrig und altmodernd auf Beute wartend.

Ach wie lange war es her, das letzte Schlachten und Morden. Die Alten wissen davon, die Jungen wispern es von Mund zu Mund; er weiß nichts.

Würde er es wissen wollen? Würde er nicht wollen, daß die Vergangenheit ruht, daß keiner sie stören, an sie rühren sollte. Das, was alle hoffen und wollen?

Doch er kennt die Zeichen nicht, sieht nicht, wie sie sich absprechen, die Vorhänge zuziehen, Schubladen leise schließen vor seinen Blicken, Hofhunde an die Leine legen und sauer aufstoßen, wenn sein Gruß sie trifft.

„Ein schönes Dorf,“ denkt er. „Hier will ich bleiben.“

Und er atmet die frische Landluft ein, sein Brustkorb weitet sich. Er ist sich sicher, hier seinen Frieden zu finden nach langer Zeit innerer Zerrissenheit. Diese einfachen Menschen, die zufrieden ihrem Tagwerk nachgehen, werden ihm helfen in ihrer natürlichen Freundlichkeit, allein durch ihr Dasein. So wird er eine Heimat finden und nicht mehr verloren sein.

Oh wie mißverständlich kann das menschliche Miteinander sein. Wie schnell kann es sich in ein Gegeneinander kehren! Wie unversehens schwelen hier im Kleinen die großen Kriege. Schon ein Gerücht verpestet die Klarheit aller Beziehungen.

Was sucht er hier? Wer ist er? Warum gerade hier?

Und sie zeigen ihm ein freundliches Gesicht, antworten einsilbig falsch auf seine Fragen und fressen jedes Neue, Andere, Fremde an ihm, um ihn so unschädlich zu machen. Haben sie ihn erst einmal auseinandergenommen, so setze er sich wieder zusammen, wenn er kann. Sie jedenfalls verwenden jeden seiner Teile, wie es ihnen gefällt und bauen daraus, was ihnen gefällt, ein Monster gar, das es zu jagen gilt.

Es nutzt ihm gar nichts, mit den Weibern zu schäkern, um sich beliebt zu machen. Sie kichern zwar, doch drücken sie sein Herz an schwachen Stellen.

Es nutzt ihm auch nichts, an Wirtshausabenden mit den Einheimischen zu zechen, zu singen und mit ihnen zu kegeln. Sie schlagen ihm feixend auf die Schulter und lassen sich freihalten. Daraus ist ihm keine Freundschaft erwachsen.

Hoffnungsfroh ist er gekommen, doch endlich wird sein Schritt zögerlicher und sein Blick nachdenklicher.

Beginnt er die Feindschaft zu spüren, die ihn anweht? Merkt er nun, daß sie unter ihresgleichen bleiben wollen? Daß er Zugang hat bis zu ihrer Schwelle, dann aber das Eisengitter herunterrasselt und er einem wilden Tier gleich im Käfig umherirrt? Daß sie ihn betrachten, füttern und mit Steinen auf ihn werfen?

Er kann es nicht verstehen, befragt sich selbst immer wieder, bemüht sich, interessiert sich, informiert sich.

Und plötzlich weiß er es. Plötzlich geht ihm das Spiel auf, erkennt er die Regeln, die es zu beachten gilt.

„Scheiß Spiel,“ denkt er und überlegt, ob er sich einlassen soll, ob er gehen soll, was er tun soll.

Noch ist er sich nicht sicher. Nach wie vor zeigt er sich wie gewöhnlich, besucht die Kirche an den Sonntagen, singt ihre Lieder, hört ihre Nöte und Klagen, läßt sich von der Feierabendidylle einlullen und gibt sich der trügerischen Illusion hin, es hätte alles seine Ordnung. Wenngleich er sich sicher ist, daß er „gefoult“ wird.

Er will das Geheimnis lüften, will wissen, warum. Das ist gefährlich, und er weiß es.

Steinchen für Steinchen trägt er zusammen, mühsam Stück um Stück.

Die Häuserwände beginnen für ihn durchsichtig zu werden, die Dächer geben ihr Innerstes preis, und was er sieht, verschlägt ihm den Atem.

Krankheit liegt in der Luft. Gewalt, Dummheit und Faulheit ringen verbissen um ihre Vormachtstellung. Ineinander verkeilt wälzen sich Sünde und Schuld im Schlamm von Jahrhunderten. Und dazwischen flackernde Augen der Furcht vor Entdeckung. Und ganz unten, halb erstickt, blau angelaufen die Liebe. Sie hatte nicht rechtzeitig fliehen können.

Er, der Fremde, der ewige Fremde steht ohnmächtig, nimmt sodann einen der Steine auf, die er gesammelt hatte, wirft und trifft. Stein für Stein trifft. Und es gelingt der Liebe, tief Luft zu holen. Sie steigt aus den Häusern empor und nimmt Gestalt an in den Menschen, die er zuvor ganz anders gesehen hatte.

Das Spiel ist zu Ende.

Die Sonne bricht durch die Wolkendecke und erhellt, was im Dunkeln lag.

Der Hahn auf dem Mist kräht vernehmlich.

Der Fremde versteht die Botschaft, dreht sich um, hört die Grillen über den Wiesen und wandert talwärts davon.



Lili Horn, Mai 2003