Jahre der Hoffnung


Es war Nacht. Auf dem Bahnsteig stand ein einzelner Mann, winzigklein in der großen, düsteren Bahnhofshalle. Gedankenverloren starrte er dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.

Man schrieb den 28. Februar 1951, und Hans Symanzik war soeben in Deutschland angekommen. Vorbei war die Zeit der Einsamkeit und der enttäuschten Hoffnungen. Bald würde er seine Frau, die er vor sieben Jahren zuletzt, und seine Tochter, die er noch nie gesehen hatte, in die Arme schließen können....

„Kann ich bitte einen Kaffee haben?“ fragte Hans Symanzik in seinem fremdartig klingenden, gutturalen Deutsch. Der Wirt, ein großer, ziemlich korpulenter Mann mit schwarzem Haar und Schnauzbart, warf ihm einen prüfenden Blick zu. Seine in langen Jahren als Bahnhofswirt erworbene Menschenkenntnis verriet ihm, dass das Schicksal diesem Fremden übel mitgespielt haben musste. Aber er erkannte auch die Kraft, die aus diesen blauen Augen strahlte. So leicht ließ dieser hier sich nicht unterkriegen.

Er nickte, ging nach hinten und kam kurz darauf mit einer Tasse frisch gebrühten, duftenden Kaffees zurück.

„Wohl gerade angekommen, wie?“ Er stellte die Tasse auf die Theke.

Hans Symanzik nickte wortlos, schlürfte den heißen, wohltuenden Kaffee und sah sich um.

Auf einem Regal in der linken hinteren Ecke des Lokals spielte ein altes Radio deutsche Schlager. Die Tische waren leer, nur am anderen Ende der Bar bemerkte er einen einzelnen Mann. Er war schlecht gekleidet, unrasiert und hing stockbetrunken über der Theke.

Der Wirt folgte dem Blick seines Gastes und bemerkte achselzuckend: „Er kommt jeden Tag hierher. Er ist ganz allein und ersäuft seine Einsamkeit in Alkohol. Und Sie?“ Er schaute Hans Symanzik interessiert an. „Sie sind auch allein, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete Hans und ein Lächeln ließ die harten Züge seines ausgezehrten Gesichtes weicher erscheinen, „aber nicht mehr lange.“...

In den folgenden Wochen besuchte er ab und zu den Bahnhofswirt, der inzwischen sein Freund geworden war. Eines Abends bemerkte er einen seltsamen Ausdruck in dessen Augen. So etwas wie Mitleid spiegelte sich darin, und es schien ihm zu gelten. Als der Wirt ihn eintreten sah, begrüßte er ihn mit einem kurzen Nicken, ging nach hinten und kehrte mit einer Zeitung zurück. Schweigend deutete er auf einen Bericht, und Hans Symanzik las:

“Endlich hat wohl die polnische Regierung eingesehen, dass sie nicht alle deutschstämmigen Menschen aus ihrer Heimat vertreiben kann. Ganze Landstriche sind bereits nahezu entvölkert. Die Zwangsaussiedlungen werden deshalb eingestellt, die verbleibenden Deutschen als „Altansässige polnischer Abstammung“ anerkannt und eingebürgert. Nun darf niemand mehr das Land verlassen.“

An diesem Abend lag auch er stockbetrunken über der Theke.

Hanna Symanzik wollte nicht wahrhaben, dass die Aussiedlungen eingestellt waren. Sie lief von Amt zu Amt und versuchte, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um doch noch die Ausreisegenehmigung zu erhalten. Doch stets wurde ihr lapidar geantwortet: „Wir brauchen junge Leute wie Sie.“

Als sie merkte, dass sie gegen verschlossene Türen rannte, zog sie sich hinter ihre Nähmaschine zurück und arbeitete bis zum Umfallen. Es war ihre Art, mit Schicksalsschlägen fertig zu werden.

Hanna war eine sehr energische Frau und ungemein attraktiv. Ihre stattliche Erscheinung strahlte ein Selbstbewusstsein aus, hinter dem sie gekonnt ihre Ängste zu verbergen wusste. Niemand sollte sehen, wie sehr sie ihren Mann vermisste, und welche Angst sie erfüllte, ihn nie wieder zu sehen.