Das Raubtier




Das Raubtier


Ronjas ganze Konzentration galt dem Segel.'Immer so fliegen vor dem Wind', dachte sie,'eins mit den Elementen! Frei, wild!' Das überwältigende Gefühl von Freiheit und Weite ließ sie aufjauchzen.
Die nächste Woge hob das Surfbrett auf den Strand.
"He, Ronja! Du wirst jeden Tag besser. Ich bin stolz auf meine sportliche Tochter."
Ronja lachte und obwohl sie wußte, daß sie Hannes damit verletzte, konnte sie es nicht lassen zu sagen:
"Na, von dir hab' ich das nicht. Anne wäre noch nicht zufrieden mit mir."
Hannes' Mund wurde schmal:
"Was soll das, Ronja? Hätte Anne sich wie eine Mutter verhalten, wäre sie auch hier. Mach ihr den Vorwurf, nicht mir."
"So? Sie hat uns verlassen, stimmt. Aber ich hab' sie trotzdem lieb. Sie ist meine Mutter und sie fehlt mir."
Bockig warf sie den Kopf zurück und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. In ihrer Zierlichkeit glich sie eher einem verwundeten Kleinkind als einer Siebzehnjährigen.
"Werd' endlich erwachsen", Hannes wurde wütend. "Anne ist gegangen, weil sie uns haßt, weil wir ihrer Selbstverwirklichung im Wege sind. Sie würde über Leichen gehen. Deine Kindheit hat sie dir jedenfalls versaut."
'Er kann nicht anders', dachte Ronja, 'er kann sich nicht mal vorstellen, daß Anne erstickt wäre, wenn sie nicht gegangen wäre. Er muß ein bösartiges Raubtier aus ihr machen, sonst kann er es nicht ertragen.'
"Schon gut, Hannes! Tut mir leid! Ehrlich!"
Er winkte müde ab und ging zum Liegestuhl zurück.

Ronja schob das Brett ins Wasser zurück. Sie wollte alleine sein. Bald blähte sich das Segel und sie schoß davon. Wie immer beim Surfen fiel alles von ihr ab. Sie fühlte sich frei, fast schwerelos und vergaß alles um sich herum.

Dann sah sie die Flosse!


Zunächst dachte sie an das Steckschwert eines gekenterten Surfbrettes. Doch dann begann die Flosse um ihr Brett zu kreisen, immer rundum, stetig und ruhig. Und plötzlich wußte sie, was es war. Ihr Körper erstarrte, wurde wie Eis und nur noch für
einen Gedanken schien Raum in ihrem Gehirn zu sein:
Nicht kentern! Nicht kentern!

"Ein Hai! Ein Hai", hörte sie wie aus weiter Ferne rufen und registrierte aus den Augenwinkeln hastiges Bemühen, aus ihrer Richtung wegzukommen. Dies spielte sich außerhalb ihrer Welt ab, die ganz eng geworden war, reduziert auf den kleinen Kreis innerhalb der magischen Grenze, die das Raubtier zog.
Ronjas Arme und Beine reagierten automatisch, hielten das Segel stetig vor dem Wind, und sie verlor das Gefühl für Raum und Zeit.
Ihr ganzes Wesen war erfüllt von der Gegenwart dieses Tieres und plötzlich wußte sie, daß ihr nichts passieren würde.
Alle Angst verschwand vor dem unglaublichen Gefühl der Einheit zwischen Mensch und Tier, Partner und Teil ein und derselben Schöpfung, die ohne zu werten alles umhüllte wie der bergende Schoß einer Mutter, aus dem einst alle Wesen als Geschwister hervorgegangen waren. Und nur ein Irrtum hatte sie zu Feinden gemacht.
Als sei mit Ronjas Verstehen eine Mission erfüllt, drehte der Hai ab, tauchte unter und verschwand.

Benommen nahm Ronja erst jetzt wahr, daß sie alleine im Wasser war. Der Strand wimmelte von Leuten, die erregt gestikulierten und ihr etwas Unverständliches zuriefen.
Ronja glitt dem Strand zu, und als das Brett auflief, wurde sie von dem leichenblassen Hannes förmlich herabgerissen.
"Ronja! Gott sei Dank! Mein Gott, ich bin fast gestorben vor Angst."
Fast schluchzend murmelte er dies immer und immer wieder und umklammerte sie, als wolle er sie nie wieder loslassen. Ronja schwieg.
Sie hatte das Gefühl, jetzt nicht reden zu dürfen, um den Zauber, der sie immer noch umfangen hielt, nicht zu zerstören.
"Sie steht unter Schock", hörte sie Hannes schließlich wie aus weiter Ferne sagen, immer wieder, zu allen möglichen Leuten. Sie wandte sich ihm zu, um den Irrtum aufzuklären. Doch plötzlich wurde ihr klar, daß es keinen Sinn hatte.
'Er würde es nicht verstehen. Er könnte es sich nicht mal vorstellen', dachte sie,
'er kann nicht anders.'
Und als er sie ins Hotel zurückbrachte, streichelte sie seine Hand, verstehend und liebevoll.

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