Diagnose Krebs - oder - wie ich zu leben lernte




Diagnose Krebs - oder - wie ich zu leben lernte


„Ich würde wahnsinnig werden“, sagte eine Freundin, „wahrscheinlich würde ich mich gleich umbringen.“
„Umbringen? Ich weiß nicht“, eine andere, „aber verzweifeln würde ich sicherlich. Und ob ich kämpfen würde? Ich hätte die Kraft wohl nicht. Ich fürchte, ich würde mich aufgeben. Und du?“
„Ich?“
Was ich machen würde, wenn ich erführe, daß ich Krebs hätte?
„Ich weiß nicht. Ich habe eigentlich keine Angst vor Krebs. Komisch, ist aber so. Ich hatte nie welche, ich weiß nicht warum.“
Die beiden betrachteten mich wie eine exotische Pflanze.
„Aber trotzdem! Was würdest du machen, wenn ...“, drängte die eine.
Ich dachte nach.
„Beten wahrscheinlich, hoffen. Ich hab‘ doch Mann und Kinder. Kann man da aufgeben?“

Ein Jahr später wußte ich es dann, aber es war ganz anders. So anders, daß ich es mir vorher nicht mal im Traum hätte vorstellen können. Sich etwas vorstellen findet im Kopf statt, das Leben in der Wirklichkeit.

Ich war gerade 30 Jahre alt geworden – im Februar. Mein Mann lebte seit Oktober bei einer anderen Frau, ich blieb mit den Kindern alleine.
Tim war in der zweiten Klasse und Sara im letzten Kindergartenjahr.
Anfänglich hatte ich gedacht, Arndt würde seinen Verpflichtungen nachkommen und zumindest Unterhalt zahlen. Daß er seine Schulden, für die ich gebürgt hatte, zahlen würde, blieb eine Hoffnung. Er zahlte beides nicht. Ich war nicht wirklich überrascht.
Immerhin hatte ich eine sichere Stelle als Lehrerin. Ich würde es schon schaffen.

Dann kam der Abend, an dem ich den erbsengroßen Knubbel unterm Arm spürte.
Der Arzt meinte, das sei wohl harmlos, eine vergrößerte Schweißdrüse. Ich solle es beobachten.
Nach drei Wochen störte mich der inzwischen kirschgroße Knoten beträchtlich, und der Arzt furchte besorgt die Stirn. Das müsse heraus, meinte er, die Gefahr, daß die ständige Reibung unerwünschte Folgen hätte, sei zu groß.

Der erste Oberarzt des Kreiskrankenhauses war ein ungemein gutaussehender, sehr netter Mensch. In ein paar Wochen würde er „Winne“ für mich werden, jetzt nannte ich ihn noch Dr. Großmann. Er operierte mich, weil der Chefarzt Dr. Schneider, der mich normalerweise behandelte, auf einem Kongress war.
Es geschah an einem 24. März unter Vollnarkose, war aber ein kleiner Schnitt, der kaum weh tat, und ich wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause. Man müsse noch den histologischen Befund abwarten, hieß es, aber das sei eine Routineangelegenheit. Ich gab mich zufrieden und nutzte die Zeit, mich ordentlich auszuschlafen.
Am Dienstag darauf, bei der Visite, war meine Geduld erschöpft. Ich würde jetzt auf eigene Verantwortung nach Hause gehen, es sei genug. Wegen des Befunds würde ich anrufen.
„In Ordnung“, sagte der Oberarzt, „nach der Visite habe ich Zeit für Sie.“
Er verließ den Raum auffallend hastig. Ich achtete nicht wirklich darauf und fing an zu packen.
Kurz darauf kam eine Schwester und zeigte mir den Weg zum Arztzimmer. Ich hatte fertig gepackt und war schon angezogen.
Als ich klopfte, dachte ich nichts weiter, freute mich auf die Kinder. Das war alles.
„Hallo, hier bin ich“, sagte ich vergnügt.
Dr. Großmann stand am Fenster. Er nickte, schwieg aber.

Ich sehe heute noch das Zimmer vor mir.
Das Ledersofa, auf dem ich sitze, den Couchtisch zwischen mir und dem Arzt. Den Schreibtisch und das
Schubladenschränkchen an der Wand, die Messingbeschläge daran und den Teppich.
Ich höre den Arzt reden, höre, daß er redet, verstehe ihn aber nicht wirklich, denke, das bin ich gar nicht, das ist ein Film, den ich sehe, das sind Schauspieler, und alles ist ein Witz.
Und dann denke ich völlig aberwitzig:
‚Hättest du mir das nicht einen Tag später sagen können, dann hätte ich gesagt: „April! April!“ ‘
Ich fühle mich irr, die ganze Situation ist irr, und ich starre nur, starre und sage nichts.
Da steht der Arzt auf, setzt sich auf den niedrigen Tisch ganz nah vor mich und streichelt hilflos meine Hand, streichelt sie und weiß nicht, was er sagen soll, sagt etwas ganz Dummes, weiß, daß es dumm ist und kann nicht anders:
„Ist es so schlimm?“
Seine eigene Verzweiflung ist so spürbar, daß ich plötzlich den Impuls habe, ihn in den Arm zu nehmen und zu trösten. Statt dessen sage ich:
„Sie machen wohl Witze?! Vor fünf Monaten hat mich mein Mann verlassen, ich hab‘ zwei kleine Kinder, sitze auf einem Berg Schulden, und Sie fragen mich, ob es schlimm ist?“
„Verzeihung“, sagt er leise, „ich ... ich ... es fällt mir so schwer.“
Ich nicke.
„Ich verstehe schon.“
Und ich verstehe wirklich. Ich verstehe, daß er es mir schon früher hätte sagen können, gestern vielleicht schon oder gar am Samstag und es nicht konnte.
Es tröstet mich, daß es ihm etwas ausmacht, daß er mich nicht als Fall behandelt, sondern als Mensch wahrnimmt, und ich frage mich, wie ein Arzt das auf die Dauer aushält.
Ich gehe zurück zu meinem Zimmer, sehe die bedauernden Blicke der Schwestern auf dem Flur, die es natürlich wissen, und ich packe wieder aus.

„Was ist denn“, fragt meine Bettnachbarin, und ich kann es nicht sagen. Kann ihr nicht sagen, daß es eine Metastase war unterm Arm, daß man den Primärtumor jetzt suchen muß, von dem man nicht weiß, wo er sitzt, von dem man nur weiß, daß er sehr aggressiv ist und schnell wachsende aggressive Metastasen produziert, und von denen noch ein paar mehr zwischen den Lymphdrüsen unter meinem Arm vermutet werden.
Ich kann es nicht sagen, stehe nur da und schaue sie an.
„Sagen Sie doch was! Was ist denn los?“
Die Furcht in ihrer Stimme erreicht mich, und ich sage:
„Ich habe Krebs!“ Es sind nur drei Worte ...

Die folgenden zwei Wochen waren die Hölle. Ich lernte Apparaturen kennen, die ich mir vorher nicht mal ansatzweise hätte vorstellen können.
Ich wurde durchleuchtet, abgelichtet, mit radioaktiver Substanz abgefüllt. Ich mußte Unmengen von Wasser trinken, unerträglich lang stilliegen, einatmen, den Atem anhalten, ausatmen, und ich war pausenlos von einer Untersuchung zur anderen unterwegs – aber den Primärtumor fanden sie nicht.
Mein Leben war auf ein Minimum reduziert, und die unsichtbare Zeitbombe, die irgendwo in meinem Körper tickte, war allgegenwärtig. Damals gaben mir die Ärzte noch ein viertel Jahr, aber ich wußte nichts davon.

Ich wurde schließlich entlassen, mit der Auflage, wöchentlich zur Untersuchung zu kommen, in der Hoffnung, den Tumor rechtzeitig zu finden.
Rechtzeitig!
Daß sie selbst nicht wirklich daran glauben konnten, sagten sie mir nicht.

Und dann – eine Woche später – geschah das erste einer Reihe von Wundern.
Kein Arzt konnte das wirklich erklären, denn Krebs in diesem Stadium tut normalerweise nicht weh.
Damals war mir allerdings nicht nach Wundern, überhaupt nicht. Vieles erkennt man erst später – im Rückblick.

Ich schreckte gegen Morgen aus dem Tiefschlaf. Ein infernalischer Schmerz in der rechten Brust hatte mich geweckt. Es fühlte sich an. als steche mir jemand eine glühende Sechser-Stricknadel bis zum Anschlag hinein.
In einer Reflexbewegung griff ich zu der Stelle und spürte den Knoten auf Anhieb. Harmlos klein, höchstens so groß wie eine Sojabohne, aber hart.
Es war keine Frage, was das war, und es war auch keine Frage, welche Konsequenzen das haben würde.
Ich überdachte meine Situation und meinen Wunsch nach einer neuen Partnerschaft. Welcher Mann, dachte ich, will eine Frau mit amputierter Brust?

Ich sah die Kinder vor mir, die vielen Schulden, das wahrscheinliche Gekabbel während der bevorstehenden Scheidung – und für alles sollte ich alleine die Verantwortung tragen?
Dabei war ich schon jetzt so müde!

Und da beschloß ich aufzugeben. Ich wollte nicht mehr. Kein Mensch konnte mich zwingen, zum Arzt zu gehen. Wenn ich der Sache ihren Lauf ließ, würden sich meine Probleme ganz von alleine regeln. Alle würden mich bedauern.
Und die Kinder?
Selbst dies war in dem Augenblick nicht stark genug. Sie hatten einen Vater, Großeltern, Onkel und Tante. Sie wären versorgt.
Ich lag im Bett, die Hand auf dem Knoten, meine Finger streichelten ihn fast zärtlich. Er würde mir die Tür öffnen zu dem Weg, auf dem ich diesem unerträglich gewordenen Leben entfliehen konnte.
Die Entscheidung war gefallen. Ich würde gehen.
Daß dies in Wahrheit eine Art Selbstmord wäre, wüßte ja niemand außer mir. Das war der einzige unangenehme Gedanke daran.

Selbstmord!

War das nicht eine Sünde?
Könnte das im nächsten Leben nicht unangenehme Folgen haben? Denn daß wir nicht nur ein Leben leben, war mir damals schon Gewißheit.

Und da geschah es:
Als ob ein Vorhang zurückgezogen würde, wurde ich plötzlich der Gegenwart von Vielen gewahr.
Der protestantische Himmel meiner Kindheit ist dünn besiedelt! Gott Vater, Jesus, der Heilige Geist, so aus dem Augenwinkel noch Mutter Maria und der eine oder andere Engel. Das ist alles.
Hier aber waren so viele, unglaublich viele. Engel? Ich weiß nicht. Wesen eben.
Und es kam eine solche Güte und Liebe herüber, daß ich in Tränen ausbrach. Kein Vorwurf, nichts. Nur verstehen und Güte. Und ein Wissen darum, daß es keine Schuld gibt. Nicht wirklich. Nur Konsequenz aus meinem Handeln, aber auch das völlig wertneutral.
Wenn es stürmt, stürmt es, nachher ist es nass und einige Bäume sterben, aber nicht weil es böse oder schlecht ist oder jemand Schuld hat, sondern weil es eben so ist wie es ist – auch im Leben eines Menschen.
So fühlte sich das an.
Das, was ich Botschaft nenne, war im Augenblick da, dennoch gebe ich dem jetzt Worte, denn wir brauchen Worte, um verstehen zu können:
„Du darfst gehen. Es ist keine Sünde. Nichts ist Sünde. Du hast alles Recht, dich auszuruhen. Und du kannst dann nächstes Mal an dem Punkt weitermachen, an dem du jetzt stehst, denn da gibt es noch einige Ziele, die du erreichen willst und die schon gesteckt sind.“

Zunächst war ich unglaublich erleichtert.
Doch schließlich begann ich zu überlegen:
‘Was? Nochmal kommen? Nochmal Geburt und Windeln, Laufen lernen, Reden, Schreiben, Lesen, nochmal Eltern, die mich erziehen, nochmal all das? Nur, um dann wieder da zu sein, wo ich jetzt bin?
Nein!
Dann kann ich auch jetzt weitermachen. Immerhin tue ich es so bewußt.‘

Und dann entschied ich mich in einem unglaublichen Kraftakt dafür weiterzumachen, mit allen Konsequenzen.
In dieser Stunde habe ich begriffen, daß es eine Angst gibt, die größer ist, als die Angst vor dem Tod.
Das ist die Angst vor dem Leben.

Der Rest ging dann ganz schnell.
Es war wieder ein Dienstag, und als ich aus der Narkose erwachte, griff ich als erstes an die Stelle, an der ja wider alle Befürchtung vielleicht doch noch eine Brust hätte sein können. Bevor man aufmacht, ist immer noch alles möglich. Doch ich war so fest umwickelt, daß weder rechts noch links eine Brust auszumachen war.
Aber die tastenden Finger fanden dennoch gleich die Antwort auf meine bange stumme Frage. Vier dünne Schläuche wuchsen auf der rechten Seite wie Krakenorgane aus dem Verband hervor und verloren sich über die Bettkante nach unten. Ein leises Klingeln von Glas war Antwort genug. Ich hatte schon zu oft die Drainageschläuche Frischoperierter gesehen, um nicht zu wissen, was das war.
Es war also passiert!

Am liebsten wäre ich in das gnädige Vergessen der Narkose zurückgesunken.
Da war es jetzt, das Leben, für das ich mich entschieden hatte; häßlich, schmerzhaft, gnadenlos.
Und als mich die Einsamkeit ansprang mit aller Macht, begann ich lautlos zu weinen.
Ich würde Menschen haben, die mir in den äußeren Dingen beistehen würden, aber innen drin würde ich einen einsamen Kampf kämpfen müssen, und der hatte soeben begonnen.

Es blieb mir nichts erspart. Fast nichts. Bestrahlungen lehnte ich ab. Zu nah war die Erinnerung an den Anblick des bestrahlten Oberkörpers meiner Tante, der über und über mit schmerzhaften, wunden Knubbeln überzogen war. Egal, was diese Ablehnung für Konsequenzen haben würde, das wollte ich nicht.
Der erste Blick auf die Narbe war ein Schock. Dennoch schaute ich so intensiv wie möglich hin. Es wird nichts besser, wenn man es verdrängt.

Die Chemotherapie war ekelhaft, und als ich zum ersten Mal einen faustgroßen Haarknäuel aus der Bürste puhlte, wußte ich, daß die Zeit der schulterlangen Wallelocken vorbei war.

Das Mistelpräparat lernte ich mir selbst in den Bauch zu spritzen.
Ich bekam eine Prothese, eines dieser silikongefüllten wabbeligen Dinger, die so echt aussehen. Ich empfand sie als so grotesk, daß ich darüber lachen mußte. Ein bitteres Lachen. Doch ich gewöhnte mich tatsächlich bald an das Zerrbild meiner verlorenen Brust.
Ich konnte nichts mehr essen, selbst die Wunschkost nicht, die mir die Klinikküche auf Bestellung liebevoll zusammenstellte. Ich wurde dünn wie ein Stock. Bei 49 Kilo, für jemanden mit 1,70 m Körpergröße bedenklich wenig, drohte der Tropf.

Da geschah das zweite Wunder.

Holger, ein Freund, fragte den Arzt, ob er mich für einen Nachmittag aus der Klinik holen dürfe.
Ich vergesse nie, wie er hereinkam, eine Rose in der Hand.
Wie ich mich anzog und in die Welt jenseits der Klinikmauern hinaustrat, eine Welt, die mir ganz neu erschien, und ich nahm alles mit einer nie gekannten Intensität wahr.
Und das chinesische Menu, das Holger liebevoll vorbereitet hatte und mir in seiner Pergola servierte, wie ein Butler seiner Fürstin, war ein Genuß - ebenso sehr wie das Ambiente.
Und das Leben klopfte erneut leise bei mir an.
Von da ab konnte ich wieder essen.

Und ich konnte auch wieder nach vorne denken. Im Krankenhaus hat man viel Zeit zum Denken.
Ich schaute mir den Chaoshaufen an, aus dem mein momentanes Leben bestand, und ich hatte keine Ahnung, wo ich ansetzen sollte.
Meine Gedanken bewegten sich in einem Kreis, aus dem ich nicht herausfand.
Irgendwann gab ich auf und legte alles in die beiden großen Hände, von denen ich mich trotz allem immer noch getragen fühlte. Es war mir wenig mehr an Halt geblieben, aber dieser war beruhigend stark.

Und da geschah das dritte Wunder.

Eines Abends kam der Chefarzt vorbei, ein auf sehr unkonventionelle Weise zutiefst religiöser und spiritueller
älterer Herr. Er unterhielt sich gern mit mir, wir waren verwandte Seelen.
An diesem Abend legte er mir ein Büchlein auf die Bettdecke mit den Worten:
„Das könnte etwas für Sie sein, schauen Sie mal ‘rein.“
Ich werde den Titel nie vergessen:
‚Sommerregen in Brindawan.‘
Es war von Sai Baba.
Drei Sätze waren es, drei Sätze! Sie waren das Tor in eine neue Richtung:

1. Willst du die Welt verändern, beginne bei dir selbst.
2. Entwickle dein SELBST-Bewußtsein.
3. Übe dich in bedingungsloser Liebe allem Seienden gegenüber.

Drei Sätze, zig mal gelesen! Aber dies war wohl für mich der Augenblick zu verstehen. Und ich verstand!
Ich wußte plötzlich wahrhaft, was das wirklich bedeutete, und daß ich damit bis zum Ende meines Lebens beschäftigt sein würde.

Und ich begann die Welt zu verändern, meine Welt, die einzige, in der ich tatsächlich etwas verändern konnte. Ich begann damit, klar Schiff zu machen.
Ich schrieb Briefe an alle Menschen, mit denen ich nicht im Reinen war. Ich klärte und bat um eine Aussprache oder um Verzeihung, je nach dem. Und mit jedem Brief, mit jedem Gespräch wurde der Knoten um meine Seele, der mir vordem gar nicht bewußt gewesen war, leichter.

Zu Hause dann begann ich Ordnung zu machen, langsam aber stetig, ich trennte mich von allem, was nicht notwendig war, und das Chaos in meinem Leben lichtete sich mehr und mehr. Und das wirkte sich mit der Zeit auch auf anderes aus. Auf allen Ebenen nahm die Klarheit zu:
Im Tun, in meinen Gefühlen, im Denken und in der Art wie ich sprach.
Ich veränderte mich so stark, daß es meiner Umgebung auffiel, und in der Folge veränderte sich auch die Art, wie mit mir umgegangen wurde, das heißt, auch bei anderen begann sich etwas zu verändern, zumindest, was die Berührungspunkte mit mir betraf.
Ich begann zu erleben, was wirklich gemeint war mit ‘beginne bei dir selbst‘.

Es ist kein leichter Weg, denn er gestattet nicht, sich zu drücken oder davonzulaufen, und das ist äußerst unbequem, aber mein Leben begann ein Abenteuer zu werden. Nicht gerade äußerlich, denn die Krankheit begrenzte meinen Radius erheblich, aber innerlich.
Und dieser Raum war grenzenlos.

Die wöchentlichen Leukozytenkontrollen waren ätzend und wurden immer schmerzhafter. Ich hatte bald keine unvernarbte Vene mehr. Aber ich wollte leben, ich hatte keine Wahl. Zu diesem Zeitpunkt waren meine Angehörigen und die Ärzte froh, daß es mich noch gab. Aber alle waren sich darüber im klaren, daß ich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr viel Zeit hatte. Alle, außer mir – ich ahnte davon nichts.

Und dann geschah das vierte Wunder, das größte.

Eines Tages rief mich der Chefarzt aus der Klinik an:
„Sie haben doch Interesse an sowas! Ich habe gerade eine philippinische Geistheilerin zu Gast. Sie praktiziert heute und morgen in meinem Zimmer in der Klinik. Kommen Sie doch!“

Man stelle sich vor!
Eine philippinische Geistheilerin, die im Chefarztzimmer der gynäkologischen Abteilung eines schwäbischen Kreiskrankenhauses praktiziert!
Das konnte sich bloß Dr. Schneider leisten, er hatte sowas wie Narrenfreiheit. Ich liebte den alten Herrn. Er war einfach unglaublich!
Natürlich ging ich hin.
Ich kannte die wirkliche Meinung der Ärzte über meinen Zustand damals zwar nicht, aber soviel war mir klar: Ich brauchte alle Hilfe, die zu kriegen war. Wenn man in der Nähe der großen Grenze steht, die wir Tod nennen, fragt man nicht lange nach, man greift zu, wenn einem der Strohhalm hingehalten wird, egal von welcher Hand.

Letty war eine sanfte, bescheidene kleine Frau, die gerne lachte. Sie legte lediglich die Hand auf die Narbe und schloß die Augen. Es war eine feine Vibration, die sich von ihr auf mich übertrug. Dann war es vorbei.
Ein junger Mann assistierte ihr, und sie stellte ihn als ihren Schüler vor. Er war Deutscher.
Schließlich sah sie mir mit intensivem Blick in die Augen und sagte:
„On first of October I’ll tell something out of my life here in Sai-Baba-Center. Will you come too? It’s important for you!“ Wieder Sai Baba!

Am ersten Oktober? Da wollte ich eigentlich Winne zum Geburtstag überraschen. Ich liebte ihn, und es sah so aus, als würde er mein neuer Partner werden. Ich zögerte, aber etwas in mir hatte keinen Zweifel.
Ich sagte zu!
Heute weiß ich, daß damit die Entscheidung für den endgültigen Weg ins Leben gefallen war.
Damals wußte ich es nicht.

Etwa dreißig Leute saßen in einem großen Kreis, als ich etwas zu spät kam. Es war nur noch ein Platz zwischen Letty und ihrem jungen Schüler frei. Als ich saß, machte Letty eine umhüllende Bewegung um meinen Körperund sagte:
„So much light! Such a lot of light!“, und mir war sehr unbehaglich dabei zumute.

Lettys Geschichte war faszinierend. Sie erzählte davon, wie sie ihre Heilkraft entdeckt hatte. Es sei nicht ihr Verdienst, es sei der Geist, der durch sie wirke:
„It’s the spirit, it’s not me!“
Ich empfand ihre physische Nähe als sehr wohltuend, fast erfrischend, ein angenehmes Gefühl, das mir bewußt machte, wie normal für mich die dauernde Müdigkeit und Erschöpfung schon geworden war. Chemotherapie schlaucht entsetzlich.

Schließlich kam etwas, das wohl keiner von uns Zuhörern erwartet hatte.
Es wäre jetzt der Moment der Initiation für ihren Schüler gekommen, erklärte Letty lächelnd. Er würde zum erstem Mal den Geist empfangen und heilen.

Der junge Mann stand auf, stellte den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, in die Mitte des Kreises und blieb dort stehen. Ich sehe ihn noch vor mir: Jung, groß, schlacksig, hell gekleidet.

Und dann kam die Frage, wer sich auf den Stuhl setzen wolle. Alle sahen sich verlegen an, niemand meldete sich, ich auch nicht.

Da wandte sich Letty um, sah mich lächelnd an und sagte:
„Would you ... ?“

Ich stand auf ohne nachzudenken, fast wie eine Marionette, setzte mich auf den Stuhl, den Körper in einer ungewöhnlichen Spannung, schaltete das Denken aus und wußte nur: ‘Was hier geschieht, ist richtig!‘.

Lettys Schüler trat hinter mich, legte mir die Hand über der Kleidung auf die amputierte Seite, und ich schloß die Augen.
Die Hand begann zu vibrieren, dann zu zittern. Schließlich schüttelte es den jungen Mann wie in einem heftigen Schüttelfrost. Ich hörte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen.

Bestimmt dauerte dies nicht sehr lang, mir jedoch erschien es wie eine Ewigkeit.
Endlich wurde die Hand zurückgezogen, und ich stand ganz benommen auf.
Ich fühlte mich wie eine zum Bersten aufgeladene Batterie. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so fit gefühlt. Ich konnte da noch nicht ahnen, daß dies lange anhalten und sich erst im Verlauf ungefähr eines Vierteljahres langsam wieder verlieren würde.
Als ich zu meinem Platz zurückkam, tätschelte Letty meine Hand und sagte:
„It‘s fine now, it’s fine!“
Merkwürdig ist, daß mir erst nach Jahren wirklich bewußt wurde, daß das eben die Heilung gewesen war.

Das war vor 22 Jahren.
22 Jahre geschenktes Leben, vollgestopft mit reicher Erfahrung: Schlimme Erfahrungen und gute Erfahrungen. Letztere überwiegen.
Ich, die ich nicht sicher sein konnte, meine Kinder groß wachsen zu sehen, habe inzwischen sogar ein Enkelkind.
Ich bin immer noch damit beschäftigt, die Welt – meine Welt – zu verändern, und die Sache mit der bedingungslosen Liebe ist verflixt schwer. Aber ich übe.
Ich habe keine Angst vor dem Leben mehr, auch wenn ich manchmal mit den Zähnen knirsche und es riesig schwierig finde zu lernen, mich darauf einzulassen. Aber keiner hat behauptet, das Leben sei einfach.

Ich habe auch keine Angst vor dem Tod. Ich war ihm schon zu nah.
Und ich habe, so komisch das klingen mag, nach wie vor keine Angst vor dem Krebs.
Ich bin durch seine Schrecken gegangen, habe aber auch eine Seite von ihm erlebt, von der ich nicht geahnt hatte, daß es sie gibt:
Er war die Tür, hinter der die größten Möglichkeiten meines Lebens warteten.
Ich möchte die Hölle jener Tage nicht noch einmal erleben, aber ich bin dankbar dafür, daß ich dadurch ein Stückchen mehr in Kontakt kommen konnte mit mir selbst.

Ich gehe zurück zu meinem damaligen Ich, sehe mich aufgeben und mich für den Tod entscheiden, und ich rufe mir zu:
„Mach weiter! Es lohnt sich! Das Leben ist trotzdem wunderbar!“

© Rosemai M. Schmidt