Der große Krach




Karlik rennt zu Ötte hinüber. Er merkt kaum, daß ihm die Tränen übers Gesicht laufen. Als auf sein Klingeln in Öttes Wohnung Schritte hörbar werden, seufzt er erleichtert auf. Das könnte er jetzt wirklich nicht brauchen, daß bei Ötte niemand zu Hause ist. Ötte ist nicht da, das weiß Karlik, weil der sonntags immer zur Kinderkirche geht. Aber Mama Anna macht auf.
"Karlik, was ist denn los", fragt sie bestürzt, als sich Karlik laut aufweinend an sie klammert.
"Ich ... will ... darf ich bei euch ... wohnen, bitte?"
"Aber Karlik", Mama Anna geht in die Hocke und zieht ihn an sich. Sie spürt, daß dies ein ganz großer Kinderschmerz ist und wiegt den weinenden Karlik in den Armen.
Als das Weinen leiser wird, geht sie mit Karlik ins Wohnzimmer und zieht ihn auf ihren Schoß.
"Was ist denn los, Karlik? Magst du es mir sagen?"
"Diese blöde Christin und dieser blöde Papa", stößt Karlik böse hervor und haut mit der Faust auf sein Knie.
"Aber Karlik! Du hast dich doch so gefreut, daß dein Papa kommt. Warum ist er denn jetzt blöde?"
"Weil er so blöd 'rumschreit mit Christin und Christin schreit auch ... und ganz häßliche Sachen. Diese Blöden, Doofen."
Mama Anna seufzt. Sie zieht ein Taschentuch hervor und wischt Karlik übers Gesicht.
"Weißt du was", sagt sie ganz sanft, "ich mach' dir einen Vorschlag. Eben hab' ich Öttes Lieblingsstreuselkuchen aus dem Backofen geholt. Da schneide ich uns jetzt ein Stück ab und dann reden wir mal in aller Ruhe drüber. O.K.?"
Karlik nickt. Es ist schon ein rechter Trost, wenn man so gute Freunde um sich hat, die einen bei sich aufnehmen, wenn man ausziehen muß.
In der Küche schneidet Mama Anna Karlik ein riesiges Stück Streuselkuchen ab. Es schmeckt herrlich und er fühlt sich gleich besser.
Öttes Mama setzt sich zu Karlik an den Tisch.
"Du bist sehr traurig, weil Christin und dein Papa streiten, nicht", fängt sie an. Karlik nickt heftig.
"Das kann ich gut verstehen," fährt Anna fort, "es ist nie schön, wenn Leute streiten. Aber es kommt eben immer wieder vor."
Karlik hört jetzt aufmerksam zu. Er fühlt sich wohl bei Mama Anna und es ist gut, so ruhig miteinander zu reden.
"Ötte ist doch dein bester Freund, nicht?"
Jetzt nickt Karlik noch heftiger und lächelt schon wieder ein wenig. Ja, wahrhaftig, das kann man wohl sagen. So einen Freund wie Ötte gibt’s nicht so schnell wieder.
"Hast du mit Ötte eigentlich auch schon mal gestritten", fragt Mama Anna nun vorsichtig.
Karlik schaut betroffen vor sich hin. Er muß gar nicht nachdenken. Sofort fällt es ihm ein. Ja! Er und Ötte haben auch schon miteinander gestritten. Es ist noch gar nicht lange her. Erst eine Woche oder so. Das war, als Karlik Auto spielen wollte und Ötte Eisenbahn, und als keiner nachgeben wollte, hatten sie sich furchtbar angebrüllt und sogar geschubst.
Schließlich war Ötte wütend gegangen und ein unversöhnlicher Karlik hatte sich geschworen, nie wieder ein Wort mit Ötte zu sprechen.
"Jaaa," sagt Karlik zögernd, "erst vor einer Woche."
"Und? Habt ihr immer noch Streit?"
"Nöö!" Karlik runzelt nachdenklich die Stirn.
"Warum nicht?"
"Hm!"
"Warst du denn nicht böse auf Ötte?"
"Doch schon...aber...der Ötte ist doch mein Freund. Und wegen so einem Streit ... also ... der geht einfach wieder vorbei."
Jetzt lächelt Karlik und Mama Anna lächelt zurück.
"Und so ist es mit den großen Leuten auch, Karlik. Meist geht ein Streit auch bei ihnen vorbei."
"Meist? Nicht immer?"
"Nein nicht immer. Aber wenn das ist, dann gibt es mehr Streit als gute Zeiten. So ein einzelner Streit ab und zu gehört, glaube ich einfach dazu. Das ist auch gut so. Es wäre ja schlimm, wenn alle Leute dieselbe Meinung hätten, nicht?"
"Hm ja."
Ein Gedanke beschäftigt ihn. Soll er Mama Anna fragen? Er hat direkt Herzklopfen. Aber irgendwie spürt er, daß nicht so schnell wieder ein solch schöner Augenblick kommt, in dem er so gut mit ihr reden kann und er nimmt sich einfach ein Herz.
"Sag mal", sagt er zögernd, "war das bei dir und Öttes Papa auch so? Hattet ihr auch so einen großen Streit, der nicht wieder gut wurde? Ist er dann weggegangen und war böse?"
"Wie kommst du denn da drauf?" Erstaunt schaut ihn Öttes Mama an.
"Na ja, weil doch Öttes Papa gar nie kommt. Da dachte ich, er ist halt vielleicht immer noch böse."
Karliks Stimme ist zum Schluß ganz klein geworden, weil er spürt, daß seine Frage Anna traurig macht.
"Ach so. Nein, Karlik, Öttes Papa ist nicht wegen eines Streites weggegangen. Er ist tot. Ich dachte, du wüßtest das."
Karlik sitzt ganz steif auf seinem Stuhl. Mit aufgerissenen Augen starrt er Mama Anna an. Ihm ist heiß und kalt auf einmal und er hat das Gefühl, nie mehr von diesem Stuhl aufstehen zu können.
"Gott, Karlik! Was ist denn! Ich wollte dich nicht erschrecken. Karlik! Es ist schon lange her, daß das geschehen ist. Ötte war noch ein ganz kleines Baby und erinnert sich gar nicht an seinen Papa. Du mußt nicht so erschrecken. Als es geschah war ich auch traurig, sehr sogar. Aber jetzt ist es gut."
Mama Annas Worte fließen in Karlik hinein und lösen die Starre langsam auf. Er geht zu ihr hinüber und legt seinen Kopf in ihren Schoß. Zum zweitenmal an diesem Tag weint Karlik herzzerbrechend. Diesmal ist es aber anders. Er weint um Ötte, der sich nie darauf freuen kann, daß sein Papa auf Besuch kommt, weil er gar keinen Papa hat.
Und er weint um Mama Anna, die immer mit Ötte allein ist und keinen Menschen hat, mit dem sie verheiratet ist und mit dem sie wenigstens ab und zu ins Kino gehen kann oder reden oder dem sie schreiben kann. Oder mit dem sie streiten kann, so wie Christin mit Papa.

Als Karlik mit Weinen fertig ist, klingelt das Telefon. Mama Anna geht dran. Sie kommt zurück und sagt:
"Karlik, dein Papa hat eben angerufen. Ötte ist nach der Kinderkirche gleich zu euch gegangen, weil er zu dir wollte. Jetzt ist er drüben. Dein Papa fragt, ob du nicht Lust hast, mit ihm und Ötte den Drachen fertig zu bauen. Sie wollen ihn heute noch steigen lassen, weil der Wind gerade günstig ist."
"Oh ja, sag ihnen, ich komme."
Karlik rutscht vom Stuhl und saust an Anna vorbei zur Tür. Dann dreht er sich noch mal um und ruft:
"Anna, wenn nicht Christin schon meine Mama wär', dann tät' ich dich doch direkt adubtieren."
"Danke, Karlik. Es wäre eine Ehre für mich, von dir adoptiert zu werden" , sagt sie und lacht dabei.
Als Karlik über die Straße saust, fühlt er sich ganz leicht.

Es wird ein herrlicher Tag. Der Drachen gelingt perfekt und steigt unglaublich hoch. Karlik macht es überhaupt nichts aus, daß Ötte den Drachen länger halten darf als er, und als sein Papa den Ötte einmal ganz fest in den Arm nimmt, ist er geradezu froh.
Einmal zieht er seinen Papa zur Seite und fragt ihn leise:
"Du, sag mal, könntest du den Ötte nicht ein ganz klein bißchen adubtieren. Nur ein bißchen?"
"Wieso denn das", staunt Papa.
"Damit er auch einen Papa hat", sagt Karlik ernst. Papa runzelt nachdenklich die Stirn. Karlik greift nach dem Zauberstein in seiner Tasche und drückt ihn ganz fest.
"Genügt dir denn ein halbierter Papa", fragt Papa da und zwinkert ein wenig dabei.
"Aber Papa, du wirst doch dann doppelt" ,sagt Karlik.
"Ach so." Papa tut ganz verwundert.
"Also, abgemacht Karlik. Ich werde Ötte adoptieren. Aber das bleibt unser Geheimnis, ja?"
"Klar, Papa" sagt Karlik aufatmend und läßt seinen Stein los.
Dann rennt er zu Ötte hinüber und hilft ihm, den Drachen einzuholen.

Gegen Abend treffen sich alle bei Mama Anna und Ötte und es wird ein herrlicher Abend mit 'Mensch-ärgere-dich-nicht' und 'Fang-den-Hut' und ganz viel Streuselkuchen.
Als Karlik abends in seinem Bett liegt, denkt er noch mal an den Tag zurück, der so schrecklich begonnen hat und so wunderschön endete.
Und plötzlich fällt ihm ein, daß Ötte ja jetzt eigentlich ein wenig sein Bruder geworden ist, ohne etwas davon zu ahnen, denn schließlich hat ihn Karliks Papa ja adubtiert. Das ist das beste daran und Karlik drückt den Zauberstein, der wie immer hinter dem Gummi seiner Schlafanzugshose steckt, ganz fest.
"Danke schön, Stein", murmelt er leise, dann schläft er ein.