Schulprojekt - Vom Lektorieren bis zum Binden: Nehrener Jugendliche beteiligen sich an der Herstellung eines Buches

»Das prägt sich ein fürs Leben«

VON INES STÖHR

Nur nicht durcheinander kommen: Die Buchseiten müssen in der richtigen Reihenfolge gestapelt werden.  FOTO: NIETHAMMER
Nur nicht durcheinander kommen: Die Buchseiten müssen in der richtigen Reihenfolge gestapelt werden. FOTO: NIETHAMMER


NEHREN. 462 Gramm. Die Waage zeigt sechs zu viel an. »Da ist ein überzähliges Blatt drin«, sagt Alfred Büngen. 37 Seiten müssen es sein. Der Verleger reicht den Stapel an Klassenlehrerin Christa Keller, damit die ihn noch einmal durchgeht. Auf den im Halbrund aufgestellten Tischen im Klassenzimmer verteilt liegen 37 Stapel Blätter eng aneinander. Ein Dutzend Jungen und Mädchen geht langsam daran vorbei, nimmt sich jeweils eine Seite und liefert den Packen bei dem Mitschüler mit dem Messgerät ab.

»Wuhseli. Ein Zeitreisender strandet«, lautet der Titel des Jugendromans von Rosemai M. Schmidt, an dem die Schüler der Nehrener Kirschenfeldschule wesentlich beteiligt sind. Im Februar las die Autorin ihnen ihr Manuskript vor und überließ es den Jugendlichen anschließend zum Lektorieren. »Nicht, was fehlende Punkte und Komma angeht, sondern in Bezug auf die Sprache«, erklärt Schmidt. So hat sie dann öfter zu hören bekommen: »So reden Kinder nicht« oder »Das Wort verstehen wir nicht.« Und manche Wendung, die der 55-Jährigen besonders gut gefallen hat, fällt dem Lektorenstift zum Opfer.

700 Kilometer Nachtfahrt

Das Manuskript lag etliche Jahre in der Schublade. 1978 hat die Tübingerin es verfasst. »Da kam mein Sohn gerade in die Schule«, erinnert sie sich. »Geschrieben habe ich, seit ich einen Stift halten kann.« Das Talent habe sie wohl vom Großvater geerbt, der sie ermutigte, etwas daraus zu machen. Schon als Siebtklässlerin wollte sie Schriftstellerin werden. »Ich war eine miserable Schülerin«, gesteht Schmidt lachend. Aber eine Lehrerin meinte, dass sie vom Schreiben bestimmt einmal leben könnte.

Einige Dinge in der Geschichte um eine Gruppe von Kindern, die sich mit einem »komischen Typen« in eine Reihe von Abenteuern stürzt, fanden die kritischen Lektoren »unspannend«, und das Wort »Rollschuhe« tauschten sie ganz schnell durch »Inliner« aus. Schmidt hat schließlich ihr Werk in zwei Wochen komplett umgeschrieben. »Wuhseli« ist das erste eigene Buch der Autorin. Bisher hat sie ihre Texte nur in diversen Anthologien veröffentlicht. Eine Freundin empfahl ihr den Geest-Verlag in Vechta. Dem gefiel das Buch, er riet der Schriftstellerin aber zu dem Schülerprojekt.

Eigentlich sollten die Schüler die 300 Exemplare des 148 Seiten starken Werkes auch selbst drucken. Die Maschine war jedoch defekt, so dass der Verleger die am Vortag in Vechta bedruckten Seiten ins Auto lud, sich hinters Steuer setzte, nach rund 700 Kilometern Nachtfahrt gestern Morgen in Nehren eintraf und den Schülern die losen Blätter zum Sortieren auf den Tisch legte.

Die Schüler sind aus der Pause zurück. Gemeinsam mit Alfred Büngen haben sie zuvor zusammengerechnet, was die Herstellung eines Buches kostet. Einige haben geglaubt, als Schriftsteller wäre man reich, erzählt der Verleger schmunzelnd. Dann fordert er die Schüler zum Waschen auf. Das Sortieren ist reine Handarbeit. »Dazu braucht es saubere Finger.«

Vor dem Zusammenlegen der Seiten hatte sie »am meisten Bammel«, gesteht Schmidt. »Aber er hat die Ruhe weg«, sagt sie mit einem Blick auf Büngen. Kein Wunder: Der hat 20 Jahre Jugendarbeit hinter sich. Verleger ist er erst seit sechs Jahren. Sechs bis acht Bücher bringt der 51-Jährige im Monat heraus, für seine Schülerprojekte hat er auch schon einen Preis gewonnen.

»Was mich wahnsinnig freut ist, dass es eine Hauptschule ist, die sich an dem Projekt beteiligt hat«, sagt Schmidt. Sie war selbst 20 Jahre lang Grundschullehrerin. Nachdem eine Tübinger Schule sich der Buchproduktion nicht gewachsen fühlte, fand Schmidt in Nehren sofort eine Interessentin: Christa Keller traute ihren Schülern die anspruchsvolle Aufgabe zu. »Die Schüler profitieren in jedem Fall davon, wenn sie erleben, wie ein Buch entsteht«, sagt sie. »Das prägt sich ein fürs Leben.«

»Stopp«, ruft Büngen. »Hier kommen inzwischen mehr Fehlexemplare an als richtige. Mehr Konzentration bitte.« Dass die Sache schief gehen könnte, hat der Verleger nie geglaubt. »Ich vertraue eher den Schülern als der Technik«, sagt er. Am Donnerstag, 22. September, wird das fertige Buch um 18 Uhr in der Kirschenfeldschule präsentiert. (GEA)


© Reutlinger General-Anzeiger 2005
Mit freundlicher Genehmigung des GEA Reutlingen.