Warum das Schneeglöckchen als erstes den Frühling begrüßt


Vor vielen Jahrhunderten, als die Welt noch ganz neu war, wollte einmal der Winter absolut nicht zu Ende gehen.
Überall hingen Eiszapfen, Schnee hatte die Erde seit Monaten in einen dicken Winterpelz gehüllt, und schon lange war das Murmeln und Plaudern der Bäche unter dicken Eispanzern verstummt.
Es wollte und wollte nicht Frühling werden, die ganz Natur schien erstarrt.
Die Sonne war meist hinter dicken Wolkenschichten verborgen, so daß ihre Strahlen nicht bis zur Erde durchdringen konnten, um sie zu wärmen.

Da beschloß ein kleines, zartes Pflänzchen, das tief unten, im Schoß der Erde, sehnlichst auf das große Frühlingserwachen der Natur wartete, zu handeln.
So laut es konnte, begann es, und obwohl es in Wahrheit nur ein leises Wispern zuwege brachte, ließ es sich nicht beirren und sang:

"Sonne, Licht, Wärme, Strahl,
eil' herbei durchs Weltenall,
komm und wärme diese Erde,
daß es endlich Frühling werde!"

All seine Sehnsucht und Liebe legte das Pflänzchen in sein Lied, das so leise war, daß es nur von einem Pflanzenkind gehört werden konnte, welches dicht daneben, gleich ihm, in seiner Zwiebelwiege geschlafen hatte.
Noch schlaftrunken begann auch dieses zu singen, und nun klangen zwei feine Stimmchen wie Glasglöckchen zur Sonne empor, die weiter hinter dem dicken Wolkenvorhang verborgen blieb.
Sie konnte wohl nichts gehört haben, so fein und leise waren die Stimmchen dort unten in der Erde.
Doch allmählich, von den Wesen über der Erde unbemerkt, wurden es immer mehr und mehr, die dort unten in der Erdendunkelheit die Sonne riefen.

Längst schon waren auch andere erwacht, auch solche, die nicht in einer Zwiebelwiege schliefen, sondern in Samenhüllen vielfältigster Gestaltung, und auch sie stimmten in des ersten Pflänzchens Glockengesang ein:

"Sonne, Licht, Wärme, Strahl,
eil' herbei durchs Weltenall,
komm, und wärme diese Erde,
daß es endlich Frühling werde!"

Immer machtvoller wurde das Lied, immer mächtiger die Sehnsuchtsmelodie, die zur Sonne emporstieg.

Den dicken Wolkentanten wurde dies langsam ungemütlich, denn dieses vielfältige Singen und Klingen war nicht nach ihrer Weise.
Sie mochten es mehr ruhig und gedämpft, weshalb sie ja auch immer bestrebt sind, alles in ihre dicke Wolkenwatte zu verpacken, damit sie ihre Ruhe haben.
Unruhiger und unruhiger wurden die Wolkentanten, und schließlich gaben sie auf.
Ein letztes Mal schüttelten sie ihre Wolkenkissen über der Erde aus. Doch diesmal waren unter den Millionen und Abermillionen Schneefederchen schon eine ganze Menge Regentränen, die immer dort zur Erde niedergehen, wo die dicken Regentanten Abschied nehmen müssen, denn sie sind sehr weichen Gemüts und schrecklich rührselig.

Bald waren die Wolken verschwunden, und zum ersten Mal seit langer Zeit trafen die machtvollen Strahlen der Sonne die erstarrte Erde.
Es war ein solches Singen und Klingen, ein Sirren und Flirren überall, daß selbst die dicksten Eispanzerriesen die Flucht ergriffen, die so lange Furcht, Schrecken und Eiseskälte verbreitet hatten.

Die Wärme der Sonnenstrahlen drang tiefer und tiefer, und eines Tages streckte das Blümchen, welches damals zuerst mit dem Sonnengesang begonnen hatte, als erstes das Knospenköpfchen durch den Schnee, der noch nicht ganz weggeschmolzen war.

Jubelnd und voller Seligkeit reckte das Blümchen seinen Kelch der Sonne entgegen und neigte dann den Kopf demütig zur Erde, geblendet vor so viel Licht und Glanz.

Die Menschen nannten das Blümchen Schneeglöckchen, weil es mitten aus dem Schnee gewachsen war und sein Köpfchen wie ein Glöckchen hing, bereit, den Frühling einzuläuten.
All die anderen Blumenkinder, die mit dem Schneeglöckchen aus den Zwiebelwiegen das Sonnenlied gesungen hatten, durften von da an als erste den Frühling begrüßen, und zum Lohn bekamen ihre Blüten alle die Gestalt einer Glocke oder eines Kelches, womit sie besonders viel Sonnenlicht auffangen können:
Die Krokusse und Märzenbecher, die Tulpen und Narzissen.

Das allererste aber, das die Sonne begrüßen darf, ist seither das Schneeglöckchen.