Literat / Bild des Monats 06.2013

Monatsbild

flickr - Marcus Schwan

Grabesstille

Vielleicht hätte sie noch leben können, wenn sie nur mal kurze Zeit ihr geschwätziges Maul gehalten hätte.
Diese Spanne Zeit, die er gebraucht hätte, die Bergkulisse der Dalmatinischen Alpen oben
und den durch den Regen stark angeschwollen Wildbach unterhalb des Felsabhanges gebührend bewundern zu können.
Sie waren gerade auf der Hälfte der Hängebrücke angekommen, die den in regenarmen Zeiten eher zahmen Wasserlauf überspannte.
Weil sie ihn zu einer eiligeren Betrachtung dieser grandiosen Landschaft  antrieb und auch schon an ihm zerrte,
während ihr Mund sich bewegte und pausenlos Geräusche produzierte,
nötigte er sich zu einem schnelleren Blickwechsel über diese grandiose Landschaft, was ihn fast schwindeln ließ.
Eigentlich hatte er noch seine neue Kamera aus dem Rucksack nehmen und ein Foto schießen wollen.
Natürlich waren ihm die Tiraden seiner Frau seit vielen langen Ehetagen vertraut.
Er hatte sich schon an viele ihrer Sonderlichkeiten gewöhnen müssen,  so auch an ihr schrilles Wesen. Und wie sie wieder aussah.
Dieses Mal trug sie diese Regenjacke in dem abscheulichen Orange, dem Schuppenkleid eines Goldfisches ähnlich,
einer Sicherheitsfarbe, wie sie ihm entgegnet hatte, dazu eine froschgrüne Hose.
Doch die Permanenz der akustischen Attacken hatte irgendetwas in ihm mürbe gemacht und ihn in einen gefährlichen Reizzustand gebracht.
Jedenfalls ging er etwas in die Knie, packte sie mit beiden Händen an den Unterschenkeln
und wirbelte sie mit Schwung über das Halteseil der Brücke.
Der gellende Schrei, den sie noch auszustoßen in der Lage war, ging unter in dem Getöse des rauschenden Wassers.
Er sah sie noch eintauchen, dann wurde sie auch schon von den Wassermassen mitgerissen, ein orangefarbener Fleck,
der bald aus seinem Sichtfeld verschwand.
Jetzt ist sie endlich still, stumm wie ein Fisch, kam es ihm in den Sinn.
In ihren Grabstein ließ er meißeln: Hier liegt in ewiger Ruhe….

Walter Milos