Literat / Bild des Monats 09.2015

Monatsbild

flickr - brummeldennis

Ein Baum der Fünfergruppe fällt

Ja, kann man sagen – der Kleine hat sich vom Acker gemacht – wortwörtlich!
Die alten Leute, die oft vorbeikamen, um den Rasen ringsum zu mähen und zu sehen, ob alles in Ordnung war, haben lange nichts bemerkt.
Doch die anderen vier Freunde, seit Jahrzehnten eine eingeschworene Gemeinschaft, versuchten ängstlich ihn zu halten. „Bleib bei uns – sieh, wie der Himmel sich wieder und wieder im Geäst verfängt, wie die Eule aus deinem Wipfel lugt. Wie sollte sie das nächtliche Treiben in Flur und Feld im Auge behalten können? Und höre nur die Mäuse flüstern, die ihre Nester an deine Wurzeln geschmiegt haben. Du kannst nicht gehen. Wie sollen wir das Lied vollenden, wenn uns die 5. Strophe fehlt? Hast du denn vergessen, wie wir gemeinsam den Lauf der Sonne über dem Tal verfolgten, den Geschichten der Vögel lauschten, den Wind in unseren Zweigen reiten ließen? Wie wir uns kraftvoll gegen Hagelstürme und Schneegestöber gestemmt haben? Nein, du kannst nicht gehen! Wir werden frieren ohne dich.“
Der kleine Baum, alt und gebrechlich, seufzte leise, neigte sich zur Seite. „ Laßt mich zurückkehren. Wohin auch immer. Ich bin müde. Ihr aber: trotzt noch ein wenig dem Lauf der Zeit. Und singt ein neues Lied, ein hoffnungsfrohes dazu!“
So schwiegen alle und hingen ihren Gedanken nach.
Bis die alten Leute kamen, erkannten, was im Gange war. Traurig hoben sie den gebrochenen Teil des 5. Baumes auf und legten ihn zur Seite. Die Frau reichte ihrem Mann lange Stangen, und zusammen stützten sie den wunden, aufrecht stehenden Rest des Baumes. „Er ist bald hinüber“, sagte die Frau und fuhr mit ihren Fingern behutsam über das morsche Holz. „Ein Invalide! Der kann noch ein bisschen leben“, entgegnete der Alte und klopfte bedeutsam an seine Brust.
Beide blickten hinauf in die schüttere Baumkrone. Dann wandten sie sich ab, bestiegen schwerfällig ihren Traktor und tuckerten davon.
Nacht und Tag lösten einander ab. Der kränkliche Baum lauschte in sich hinein, träumte seinen letzten Traum und sprach nicht mehr.
Die anderen murmelten unentwegt, versprachen, ihn in ewiger Erinnerung zu behalten. Schließlich – verstummten alle.
Die Zeit hielt den Atem an,
Der 5. Baum warf seine Krücken ab und ließ sich sanft zu Boden gleiten.

Birgit Korell-Sampaio