Literat / Bild des Monats 09.2019

Monatsbild

stevepb

Der rote Faden

Ein Weltreisender verirrte sich im Dschungel, wo er nach Tagen vergeblicher Suche nach einem Weg aus dem feuchten Dickicht bei der Begegnung mit einer Boa Constrictor den Kürzeren zog.
Er wurde mit Haut und Haaren von dem Untier verschlungen. Das einzige, was von ihm übrig blieb, war ein Dschungel-Reiseführer von Polyglott, der noch einige Tage unter dem Baum,
auf welchem die Schlange ihren Verdauungsschlaf hielt, Zeugnis ablegte von dem Drama, das sich hier abgespielt hatte.
Doch bald fiel das Buch dem allgegenwärtigen Schimmel zum Opfer und verrottete rückstandsfrei.
So verlor ein kleiner Bücherwurm, welcher die Seiten 148 bis 203 bewohnt hatte, sein Heim und war gezwungen, sich ein neues Zuhause zu suchen.
Mühsam würmelte er sich durch den Dschungel, reiste hier mit einem vorüberkommenden Affen weiter und dort mit einem beutegierigen Tiger,
indem er sich in deren Fell verbiss, ohne dass diese etwas merkten.
Auf diese Weise gelangte er endlich aus dem Dschungel heraus in ein kahles Gebirge.
Dort begegnete ihm das Glück in Gestalt eines Forschers aus Frankfurt, der mit einem Hammer auf Gesteinsbrocken herumklopfte, in der Hoffnung, seltene Versteinerungen zu finden.
Er trug hautenge Hosen, weil er Angst davor hatte, Giftschlangen könnten ihm in die Beinkleider kriechen.
Das erschwerte dem Bücherwurm das Erklimmen des Mannes, aber schließlich schaffte er es doch.
Er schlängelte sich vorsichtig die Schulter entlang, kroch am Kragen hoch und nistete sich schließlich im linken Ohr des Mannes ein.
"Meister", lispelte er schamhaft, "erschreckt nicht. Ich bin ein kleiner verwaister Bücherwurm, der eine neue Bleibe sucht.
Könntet Ihr mir dabei helfen? Ich sitze in eurem linken Ohr, Ihr habt aber von mir nichts zu befürchten. Ich werde Euch dienen, soviel in meinen Kräften liegt. Hättet Ihr Arbeit für mich Armen?"
Zunächst war der Forscher schreckensstarr, doch nach einigem Hin und Her und der Feststellung, dass der Bücherwurm den Inhalt des Reiseführers auswendig kannte, wurden die beiden handelseins.
Der Bücherwurm übernahm den Posten eines privaten Ohrwurms, erhielt den Namen Benno und begleitete den Forscher, der ihn bald nicht mehr missen mochte, auf allen Reisen,
sogar bis nach Südamerika ins alte Reich der Inkas.
Dort schlüpfte Benno eines Tages seinem auf der Erde schlafenden Herrn aus dem Ohr, um auch einmal die Sonne zu genießen.
Er kroch auf einen Kieselstein und streckte sich genüsslich. Darüber schlief er schließlich ein. Er bekam einen fürchterlichen Sonnenbrand, der seine Haut krebsrot färbte und verschied kläglich.
Der Forscher erwachte, erhob sich und wanderte weiter.
Es dauerte bis zum Abend, bis er merkte, dass er seinen Ohrwurm verloren hatte. Er betrauerte Benno lange und konnte seinen Verlust nie ganz verschmerzen.
Zwei Tage nach Bennos Tod, kam ein alter Mann daher und setzte sich zur Mittagsrast nieder. Plötzlich entdeckte er auf einem Kieselstein einen roten Faden.
"Gott sei Dank", murmelte er, "der kommt mir gerade recht."
Er zog eine Nähnadel aus dem Revers, fädelte Benno durchs Öhr und nähte damit einen Knopf fest, der am Morgen abgegangen und bisher in seiner rechten Jackentasche darauf gewartet hatte, wieder befestigt zu werden.
Als der Alte am Abend nach Hause kam, erzählte er seiner Frau von dem roten Faden, den er einfach so in der Landschaft gefunden hatte.
Diese untersuchte den Knopf und den Faden und konnte sich nicht genug darüber wundern.
Noch jahrelang rätselten sie über die Herkunft des Fadens, aber sie konnten nie eine zufrieden stellende Erklärung finden.
Eines Tages fragte der einfältige Pietro, als er den Mann traf, weshalb er den Knopf denn mit einem Wurm angenäht habe.
Da lachten ihn alle aus, und am lautesten lachten der Mann und seine Frau.
Das kann man verstehen. Denn - wer nimmt schon einen Einfältigen ernst.

Rosemai M. Schmidt


 


 

Rosemai M. Schmidt