Literat / Bild des Monats 10.2019

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pixabay - karlfrey

Marsidylle

„Und, Großvater, erzähl wie es war, als die ersten Siedler nach Mars-Stadt kamen, erzähl!“
„Ach, Kind, das hab ich dir doch schon 1000-mal erzählt.“
„Großväterchen, bitte …!“
„Na gut, na gut!“
Vern 66 schaute gedankenverloren aus dem Bullauge der Wohnkapsel 898 in den abendlichen Standsturm hinaus, der die kahlen Felsen in geheimnisvolle Urzeittiere verwandelte,
deren Höcker und Buckel aus dem vielfarbigen Marssand ragten, als würden sie seit Jahrmillionen schlafen und seien darüber zu Stein geworden.
„Das war damals, vor 5000 Marsjahren, zu einer Zeit, als unsere Vorfahren, die Terraner, ihren Planeten Terra schon fast zerstört hatten.“
„Warum taten sie so was Dummes, Großvater?“
„Das versteht kein Marsianer.“
„Und was waren das für Terraner, die kamen, um auf dem Mars zu leben?“
„Das war eine Gruppe von Menschen, die man auf Terra nicht mehr haben wollte.“
„Und warum nicht?“
„Weil sie sich weigerten, wie alle zu sein!“
Die Tür öffnete sich und Sugu, der Robotsauger streckte sein Sensortentakel in den Raum.
„Der Herr wünscht Reinigung?“, schepperte die Blechstimme monoton.
„Nicht jetzt, Sugu“, entgegnete der Vern 66 unwirsch, „morgen früh!“
Das Tentakel zog sich zurück und Sugu rollte davon.
„Wo waren wir stehen geblieben?“
Vern war ungehalten und nahm sich vor, Sugu umzuprogrammieren, um diese lästige Störneigung zu eliminieren.
„Die Ahnen weigerten sich, wie alle zu sein.“
„Ach ja! Sie waren zu sanftmütig. Sie verweigerten den Kriegsdienst. Und darum wurden sie für die erste Marsmission ausgewählt.“
„Und die letzte, gell, Großvater?“
Vern 66 seufzte.
„Und die letzte, ja. Es kam danach niemand mehr auf dem Mars an.“
„Warum, Großvater?“
„Ach, Lal, mein Kleiner, das erzähle ich dir, wenn du größer bist.“
„Großvater, bitte …!“
„Schluss jetzt! Zeit für den Kokon!“
„Hatten die Terraner auch Schlafkokons, Großvater?“
„Nein!“
„Warum nicht?“
„Sie waren an das Marsleben noch nicht angepasst!“
„Aber wir schon, nicht?“
„Ja, mein Kleiner, wir schon. Aber rein mit dir in den Kokon. Und schlaf jetzt!“
Lal kroch in seinen rostfarbenen Kokon, der wie alle Schlafgelegenheiten der Marsianer von der Decke schaukelte.
Er schloss die Augen und war eingeschlafen, bevor der Großvater die Schlafecke verlassen hatte.
Vern 66 stand vor dem Bullauge und beobachtete den Aufgang Terras wie jeden Abend.
Seufzend suchte er den Planeten danach ab, ob nicht wieder ein wenig Blau auf ihm zu sehen wäre. Aber er sah nichts.
Terra war grau wie immer, seit der große Blitz, den die Mars-Astronauten vor 10 Generationen durch ihre Teleskope beobachtet hatten, darüber hergegangen war.
Terra war immer noch tot, so tot, wie seit vielen, vielen Jahren.
„Die Hoffnung stirbt nie“, murmelte Vern 66, „vielleicht kehrt das Leben auf Terra ja zurück.“
Wie sie wohl ausgesehen haben, unsere Vorfahren?, fragte er sich, während er zu seinem Kokon ging.
Und er bedauerte wie so oft, dass die Computer mit dem Bildmaterial von Terra zerstört waren, weil sie die Atmosphäre nicht verkraftetet hatten.
Er kroch in seinen Kokon, faltete seine 6 Beine zusammen, zog die Fühler ein und hüllte sich in seine Flügel. Er klappte die Augenhäute zu und fiel in Schlafstarre.
Vor dem Bullauge versank die graue Erde langsam hinter dem Horizont.

Rosemai M. Schmidt