Literat / Bild des Monats 12.2020

Monatsbild

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Marias kleiner Vogel

Ist es nicht so, dass immer mehr Menschen die Kälte fühlen, die Kälte, die zweifeln lässt daran, dass es noch Liebe und Zärtlichkeit gibt auf der Welt? Ist es nicht so, dass die Gleichgültigkeit und der Egoismus sich aufgemacht haben, die Welt zu erobern und dabei die Schwachen, Kleinen, Hilflosen unter die Sohlen ihrer harten Stiefel treten und der Hoffnung höhnische Blicke des Triumphes zuwerfen? Und ist es nicht so, dass die Menschen über all das klagen, aber gleichzeitig sagen: „Was können wir schon tun?“
Ja, was können wir schon dagegen tun, du und ich und alle die anderen? Nichts!
Nichts?
Doch!
Wir können die Welt nicht verändern, die ganze große Welt, wie sollte das gehen. Aber wir können dennoch etwas tun:
Wir können unsere Augen öffnen und wahrnehmen, was um uns ist. Dann sehen wir vielleicht doch jemanden, der unserer Hilfe bedarf. Und wenn wir unsere Ohren dann nicht verschließen und die Hilfe geben, die wir geben können, dann haben wir etwas verändert. Sicherlich nicht die ganze große Welt, sondern etwas ganz Kleines vielleicht, und dennoch wird danach die Welt nicht mehr dieselbe sein wie zuvor.
Wie das gehen soll, fragst du?  Nun, ich will dir eine Geschichte erzählen, und danach wirst du es verstehen:

Vor langer, langer Zeit lebte in Mexico ein kleines Mädchen namens Maria, und sie war eines der ärmsten Kinder im Land. Sie besaß nichts als die Fetzen, die sie auf dem Leib trug, und außerdem war sie mutterseelenallein auf der Welt. Des Nachts verkroch sie sich zum Schlafen im Schuppen einer armen Witwe, die selbst nichts besaß, das Kind aber immerhin in ihrem Schuppen duldete, weil sie Erbarmen mit dem Kind hatte.
Der Tag, an dem meine Geschichte beginnt, war einer der glücklichsten in Marias kurzem, siebenjährigen Leben. Sie hatte zum ersten Mal Geld. Richtiges, echtes Geld. 3 Pesos, die ihr ein Fremdling gegeben hatte, weil sie ihm den Weg weisen konnte. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie sich etwas zu essen kaufen können, ohne betteln zu müssen. Beim Gedanken an eine warme Paella schmerze ihr leeres Bäuchlein so sehr, dass sie meinte, sich übergeben zu müssen.
Sie hüpfte eben den gewundenen Pfad von der Hütte der Witwe zum Markt hinab, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah. Maria blieb stehen und beugte sich zu dem kleinen Wesen am Straßenrand hinunter. Ein kleines graues Vögelchen lag mit gebrochenem Flügel im Staub und piepste entsetzt, als die große Gestalt über ihm aufragte.
Maria schaute das Tierchen lange an, dann öffnete sie ihre Faust und musterte ihren Schatz. Ihr Magen knurrte so laut, dass das Geräusch das jämmerliche Piepsen übertönte. Tränen des Mitleids traten in ihre Augen, und ohne lange zu überlegen nahm sie das Vögelchen auf und bettete es behutsam in einer Falte ihres ärmlichen Gewands.
Auf dem Markt angekommen lief Maria mit einem bedauernden Blick am Paellastand vorüber und blieb vor dem des Korbflechters stehen.
„Was für einen Korb bekomme ich dafür?“, fragte Maria mit klarer Stimme und hielt dem Korbflechter ihren Schatz auf der flachen Hand entgegen, während sie die andere, gewölbte, ganz sanft an ihrer Brust hielt.
Der alte Pietro wiegte seinen grauen Kopf und schaute das Kind prüfend an.
„Diesen hier“, sagte er schließlich und hielt einen kleinen Korb mit einem hohen Henkel in die Höhe. „Aber groß ist der nicht. Da passen höchstens zwei Eier hinein. Aber immerhin hat er einen Deckel, damit nichts herausfallen kann.“
„Für mich ist er groß genug“, strahlte die Kleine und legte das Geld auf den Tisch. Der Korbflechter gab Maria das Körbchen und schaute ihr kopfschüttelnd hinterher.
„Kinder“, murmelte er leise. „Wozu sie das Körbchen wohl braucht?“ Doch Pietro wäre nie darauf gekommen.
Maria lief zurück und erklomm den Weg so schnell sie konnte. In dem alten Schuppen angekommen, suchte sie kleine Ästchen und einige Strohreste zusammen, polsterte das Körbchen aus und bettete das Tierchen, welches sich alles jetzt vertrauensvoll gefallen ließ, auf das weiche Nestchen. Dann stellte sie es in eine geschützte Ecke.
Und Tag für Tag fütterte Maria den kleinen Vogel mit Räupchen, die sie sammelte und tränkte ihn mit Wasser aus dem kleinen Bächlein, das an der Hütte vorbeifloss.
Darüber war Weihnachten herangekommen. Und Maria wurde schmerzhaft bewusst, dass sie auch dieses Jahr keine Gabe haben würde, die sie bei der Christmesse in der Heiligen Nacht dem Christkind darbringen könnte. Dennoch wollte sie hingehen, um wenigstens den Lichterglanz sehen und die Musik hören zu können. Und weil sie ihren kleinen Patienten nicht alleine lassen wollte, nahm sie das Körbchen mit in den Dom.
Und schließlich kam der Moment heran, dass die Gläubigen nach vorne treten und ihre Gaben vor den Altar bringen sollten.
Was gab es da alles zu sehen: Schöne Gewänder, Gebackenes und Gebratenes, Kunstwerke, und jeder Handwerker brachte das Schönste aus seiner Werkstatt dar.
Maria hatte nur von fern schauen wollen, aber die Menge stand so dicht, dass sie nicht dagegen ankam und einfach mit vor den Altar geschoben wurde. Da stand sie nun in ihrem dünnen Kleidchen, rot vor Verlegenheit und hatte nichts in Händen als ihr Körbchen, das ja aber das Krankenlager des Vögelchens war und nicht verschenkt werden konnte. Die Leute wollten schon unruhig werden, weil Maria keine Anstalten machte, ihr Geschenk den anderen hinzuzufügen, als eine sanfte Stimme erscholl:
„Maria, ist das dein Geschenk für mich? Dann öffne das Körbchen, damit ich sehe, was du mir bringst.“
Maria war voller Staunen und öffnete den Deckel des Körbchens, denn das konnte dem kleinen Vogel ja schließlich nicht schaden.
Da erhob sich das Tierchen aus dem Körbchen, flog völlig geheilt vor dem Altar in die Höhe und war so voller Jubel und Dankbarkeit, dass es nicht anders konnte: Es öffnete den Schnabel und wollte sein übliches Zwitschern erschallen lassen.
Doch was der kleinen Kehle entströmte, war ein Gesang von solch bezwingender Süße und Köstlichkeit, dass die Menschen in der Kirche auf die Knie fielen und die Hände zum Gebet falteten. Noch nie hatte jemand einen solchen Gesang gehört, der direkt aus dem Himmel zu klingen schien, und in jedem Ton klang ein wenig der Gesang der Engel mit.
Und alle Menschen fühlten sich gesegnet, weil sie dazu ausersehen waren, den ersten Gesang einer Nachtigall hören zu dürfen.
Marias Geschenk aber war das größte von allen gewesen.

Siehst du, so ist das!
Unsere Menschenaugen sehen das Wichtige meist nicht. Was wir als bedeutsam betrachten, ist vor Gott vielleicht ganz klein, und was wir nicht beachten, weil es uns gar zu unauffällig und klein erscheint, das kann in Gottes Augen größer sein als alles, was wir dafür halten.
Darum glaube nicht, dass du nichts tun könntest. Tue das, was du kannst und tue es liebevoll. Das Urteil darüber, ob es klein oder groß ist, kannst du getrost dem Lieben Gott überlassen.

Rosemai M. Schmidt