Das Korn


Manu ging seine Straße auf der Suche nach dem Sein. Da begegnete ihm der Herr und legte ihm ein Samenkorn in die Hand.
"Laß mich mit dir gehen, Herr, ich fühle, daß ich bei dir finden werde, was ich suche", flehte Manu.
"Habe Geduld, Manu", entgegnete der Herr, "dein Weg ist noch nicht zu Ende. Sieh das Samenkorn in deiner Hand. Nimm es und tue mit ihm nach seiner Natur. An dem Tage, an welchem es sich entfaltet, wirst du mich wiedersehen."
Als Manu den Blick von dem Samenkorn in seiner Hand hob, war er allein.

Unermeßliche Sehnsucht, beim Herrn zu sein, erfüllte sein ganzes Wesen.
Und eingedenk der Worte des Herrn trachtete er, das Samenkorn so schnell wie möglich der Erde zu übergeben.
Am Rande des Waldes baute er eine kleine Hütte, in deren Schutz er das kostbare Korn eingrub.
Sorgfältig goß er es Tag für Tag. Doch so aufmerksam er auch schaute, es tat sich nichts.

Manu grub einen Brunnen, um noch besseres und reineres Wasser zu haben, ging schließlich gar bis zum höchsten Berg, um die klarsten Bäche und Gletscherseen zu suchen, doch auch deren Wasser brachten das Korn nicht zum Keimen.

Eines Tages kam ein Mönch vorüber, der sich Christ nannte.
Als er bei Manu sich ausruhte, um aus dessen Brunnen das köstliche Wasser zu trinken, und dabei von Manus Problem hörte, ließ er ihm ein Fläschchen geweihten Wassers zurück, dem er die Kraft zusprach, das Korn zum Keimen zu bringen.
Manu tat wie der Mönch ihm geraten hatte und wartete voller Freude.
Doch nichts ereignete sich.

Nicht anders erging es ihm mit einem frommen Derwisch, der ihm heiliges Wasser vom Brunnen Zem Zem in Mekka schenkte.
Und auch eines vorbeiziehende Juden Wasser vom Jordan half nicht, das Korn zu entfalten.

Lange Zeit verging, Manu wurde vom Jüngling zum Mann, und noch immer ruhte das Korn in der Erde, wie es einst der Herr in Manus Hand gelegt.
Manu begann zu zweifeln, dann zu hadern. Vorwürfe machte er dem Herrn in seinem Herzen.
Hatte er ihn genarrt? Hatte er ein taubes Korn erhalten?
"Ist das deiner würdig, Herr? Nimm die Last von mir, entlaß' mich aus dieser Prüfung, sie ist mir zu schwer", so sprach Manu in seinem Herzen zum Herrn. Doch der Herr schwieg.

Noch einmal erfüllte Hoffnung Manus Seele, als ein indischer Pilger an seinem Haus vorüberkam.
Wasser aus dem heiligen Ganges hatte er dabei und gab Manu davon. Es hatte schon Wunder getan, dieses Wasser, wenn es nicht hülfe, könne nichts auf der Welt helfen, sagte der Pilger beim Abschied.
Sorgsam goß Manu das Korn, freudig erwartete er das Aufbrechen der Erde, wachte die ganze Nacht, um den lang ersehnten Augenblick nicht zu versäumen.
Doch er wachte umsonst.

Und wieder vergingen Jahre. Manu war ein Greis geworden. Die lange Zeit des Hoffens und des Sehnens hatte alle Wünsche aus seinem Herzen gebrannt, außer dem einen einzigen, das Korn zum Entfalten zu bringen, um zum Herrn zu kommen.
Selbst Zorn, Hader und Zweifel waren zu Asche geworden im Feuer dieses übermächtigen Sehnens: Beim Herrn zu sein.

Und eines Morgens war Manu zu schwach, sein Korn zu gießen. Die Kanne entglitt seiner zittrigen Hand und kraftlos sank er zur Erde nieder, die immer noch schweigend sein kostbares Korn in ihrem geheimnisvollen Schoß barg.
Und Manu rannen die Tränen der Schwäche über die Wangen und netzten die Erde. Es schien ihm, als wollten sie nie versiegen.
Und mit den Tränen löste sich das Letzte, was noch in Manu brannte: Die Sehnsucht, beim Herrn zu sein.
Und er wurde ganz leer.

Als Manu sich schließlich aufrichtete, wuchs vor ihm aus der Erde eine lichtvolle Blüte, deren Leuchten sich ausdehnte und ihn mehr und mehr umhüllte.
Im Zentrum dieses Leuchtens stand der Herr. Und als dieser Manu in Liebe umfing, erkannte er, daß es nie eine Trennung gegeben hatte.

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