Mein ist die Rache, spricht der Herr ...


Als Flora, eine hübsche, große, kräftige, noch relativ junge Frau, nach dem Tod der alten Therese den Dienst als Haushälterin im Pfarrhaus antrat, war allenthalben des anzüglichen Flüsterns besonders der männlichen Dorfjugend kein Ende.

Doch schließlich ging man zur Tagesordnung über. Was im Pfarrhaus vor sich ging, blieb Spekulation, und solange der Schein gewahrt wurde, war schließlich alles in Ordnung.

Bis der junge Kaplan kam.

Dieser, ein wahrer Adonis mit strahlend blauen Augen und schwarzen Locken, hatte vorübergehend das schräge Dachstübchen im Pfarrhaus bezogen. Er war übereifrig, stand sogar täglich um fünf Uhr auf, um in der Stille der morgendlichen Kirche zu beten und befleißigte sich nach Kräften, dem Pfarrer zu Diensten zu sein – und nicht nur diesem.

Eines Nachts kam Pfarrer Westendonk spät von einer letzten Ölung zurück. Um Flora nicht zu wecken, stieg er auf Socken leise die Treppe empor. Auf der vorletzten Stufe verharrte er. Die Geräusche, die aus Floras Schlafzimmer am Ende des langen Flurs zu ihm drangen, waren so eindeutig, dass dem Pfarrer kein Zweifel darüber blieb, was sich dort drinnen abspielte.
Er stand wie zur Salzsäule erstarrt, Lots Frau gleich, mit dem Unterschied, dass er sich würde zurückwenden müssen, um nicht das Schlafzimmer zum Schauplatz einer Katastrophe zu machen, die Sodom und Gomorrha in den Schatten stellen würde, dann nämlich, wenn er dort hin eilen und die Tür aufreißen würde.
Er war sich keine Sekunde darüber im Zweifel, wer sich dort drin mit Flora vergnügte. Der hinkende alte Küster war es mit Sicherheit nicht.

Langsam löste er sich aus seiner Erstarrung und begann die Treppe wieder hinab zu schleichen.
„Flora“, flüsterte er dabei verzweifelt, „Flora, Flora, Flora ...!“
Wieder und wieder stammelte er ihren Namen, als könnte er so den furchtbaren Schmerz betäuben, der ihn zu ersticken drohte.
Als er die Haustüre leise hinter sich zugezogen hatte, setzte er sich auf die Eingangsstufe und barg das Gesicht in seinen Händen.
War das jetzt die Strafe für seine Vermessenheit, als Sechzigjähriger eine Beziehung mit einer Dreißigjährigen zu beginnen? Wie sehr hatte es seiner Eitelkeit geschmeichelt, als Flora ihn erhört hatte! Es hatte nicht gut gehen können! Und jetzt? Sollte er so tun, als wisse er nichts? Konnte er das? Er stöhnte auf. Und allmählich dämmerte ihm die Erkenntnis, dass, was immer geschehen mochte, er auf seinen Beruf, der ihm bis dahin immer Berufung gewesen war, eher würde verzichten können als auf Flora. Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen.
Dann, plötzlich, wie ein Überfall von hinten, kamen Wut und Hass. Dieses Gefühl erfüllte ihn von Kopf bis Fuß, überschwemmte ihn, bis es ihn schüttelte, dass ihm die Zähne klapperten.
Er ballte die Fäuste und stand auf, widerstand dem Drang, laut zu schreien und biss die Zähne zusammen.
Noch nie in seinem Leben hatte er diese rasende Wut und solchen Hass gefühlt. Es erschütterte ihn zutiefst, dass er zu solch abgrundtiefem Gefühl überhaupt fähig war. Und sein Hass galt nicht Flora.
Hatte das Schicksal diesen Jungen nicht ohnedies mit allen leiblichen und geistigen Vorzügen ausgestattet? Musste er ihm jetzt auch noch Flora nehmen, das Kostbarste, was er im Leben besaß – die Göttin einer späten ersten Liebe und einzige Blüte in dem verdorrten Garten seiner Gefühle?
Er knirschte mit den Zähnen, öffnete und schloss die Hände, als wolle er etwas in ihnen zerdrücken, doch er merkte es selbst kaum.

Und plötzlich wurde der Pfarrer ganz ruhig. Ein Gefühl eisiger Kälte breitete sich in ihm aus, fürchterlicher als der Hass zuvor.
Er hörte sich die Worte sagen:
„Mein ist die Rache, spricht der Herr“, und die Härchen seiner Unterarme stellten sich dabei auf.
Dann wandte er sich um, öffnete und schloss geräuschvoll die Haustür und wartete lange genug, bevor er – in Schuhen diesmal – die Treppe hinaufging.

Hinter Floras Schlafzimmertür war es still, und Westendonk stieg weiter zu seinem Schlafzimmer im zweiten Stock. Er tat, als höre er das leise Rascheln auf dem obersten Treppenabsatz zur Dachkammer des Kaplans nicht. Es war nicht mehr wichtig, denn er wusste, was er zu tun hatte.
Die Tür seines Zimmers schloss er nicht hinter sich, er lehnte sie nur an.

Am nächsten Morgen erschütterte eine Nachricht das ganze Dorf. Der Küster hatte, als er morgens in die Kirche gekommen war, den jungen Kaplan leblos neben dem Weihwasserbecken gefunden. Der eilends herbeigerufene alte Dorfarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen. Er untersuchte ihn gründlich, konnte aber nichts Auffälliges finden. Der Küster, befragt, ob ihm an dem jungen Mann in letzter Zeit Merkwürdiges aufgefallen sei, antwortete, er sei ihm schon etwas blass vorgekommen, habe auch auf eine diesbezügliche Frage geantwortet, er schlafe ziemlich schlecht. Der Pfarrer bestätigte diesen Eindruck ebenfalls.
Der Arzt nickte, als habe er so etwas vermutet und meinte, der Kaplan habe offensichtlich ein schwaches Herz gehabt. Er habe einen Herzschlag erlitten, das komme auch bei jüngeren Leuten gar nicht so selten vor. Er trug auf dem Totenschein unter Todesursache ein: Herzstillstand. Der Kaplan wurde in sein Heimatdorf überführt und zur letzten Ruhe gebettet.
Da in diesen Tagen alle verstört herumliefen, fielen Floras rotgeweinte Augen niemandem besonders auf. Niemandem – außer dem Pfarrer.

Am Tag nach der Beerdigung des Kaplans gab das alte Verlängerungskabel, das Flora für gewöhnlich zum Bügeln benutzte, endgültig den Geist auf.
‚Immer dasselbe’, dachte sie verärgert, ‚für seine Bücher ist ihm nichts zu teuer, aber sonst … sparsam nennt er das. Sparsam, ha! Ein neues Kabel hält er für unnötig. Wenn die Leute in der Gemeinde seine geflickten Unterhosen sehen könnten … und den durchgesessenen Lehnstuhl …’
Sie lief gereizt zur Kirche hinüber, um das Kabel zu holen, das gelegentlich in großen Messen an hohen Feiertagen für das Mikrophon benützt wurde, doch es war nicht an seinem Platz.
Als sie schon fast verzweifeln wollte, fand sie es schließlich ganz hinten im Schrank mit den Messgewändern, und auch dort hätte sie es vermutlich übersehen, wäre es nicht weiß gewesen.
Es lugte ein klein wenig über den Rand des hohen alten schwarzen Gummistiefels in der dunklen Schrankecke, der den ausgedienten langen Kerzenlöschern als Ständer diente.
Flora seufzte. Sie würde die Leidenschaft des Pfarrers für all die skurrilen alten Sammelobjekte, die an den unmöglichsten Orten in den merkwürdigsten Behältnissen herumstanden, nie verstehen. Sie hatte nur Arbeit damit, alles sauber zu halten.

Sie bückte sich in das Dunkel des Schrankes und zog das Kabel aus dem Stiefel. Als sie es bei Licht besah, erstarrte sie.
Aus dem einen Loch des flachen Dosenteiles ragte ein fingerlanger, hakenförmig gebogener Kupferdraht, so als wollte er etwas Rundes umarmen. Er war auf raffinierte Weise so befestigt, dass er nicht herausrutschen konnte. Es war nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie das andere Ende einsteckte und dann den Draht berührte...
Flora wurde eiskalt!
Sie sah vor ihrem inneren Auge den jungen Kaplan vor der alten kupfernen Weihwasserschale liegen, und plötzlich wusste sie, was mit dem Armen geschehen war.
Einem Impuls gehorchend stopfte sie das Kabel wieder in den Stiefel zurück und rannte aus der Sakristei ins Pfarrhaus hoch. Keuchend warf sie sich auf ihr Bett.
Was sollte sie bloß tun? Und sie verstand mit einemmal, weshalb der Pfarrer in ihrer Gegenwart seit dem Tod des Kaplans so verkrampft und verwirrt gewesen war. Er musste etwas gemerkt haben. Oh Gott!
Aber deshalb gleich töten ... gleich töten?
Flora richtete sich auf. Ihre Augen funkelten voller Hass.
Töten? Warum nicht ...


……………..


© Rosemai M. Schmidt