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Was du heute kannst besorgen

Mit einem erleichterten Seufzer hänge ich das Staubtuch an seinen Platz. Dritter Haken von links, wie immer. Es ist ein gutes Gefühl, mein abendliches Ritual auch heute wieder absolviert zu haben. Zufrieden schaue ich mich in meinem kleinen Reich um:
Alles ist an seinem Platz, die Blumen gegossen, kein Krümelchen verunziert den kostbaren Perser, den ich von Großmutter geerbt habe. Der in dem alten Flügel sich spiegelnde Raum wirkt wie ein vollkommenes Gemälde.
Es kann kaum eine perfektere Person geben als mich, das muss ich mit einem gewissen Stolz sagen.
Auch im Büro dulde ich keinen Schlendrian. Alle Vorzüge meines Geschlechts vereint auf wunderbare Weise in mir. Was kann ich denn noch tun, um Lothar davon zu überzeugen, dass ich die perfekte Frau für ihn wäre? Eigenartigerweise geht er stets auf Distanz, wenn ich mich ihm nähere, aber kürzlich ist mir klar geworden, dass er einfach schüchtern ist. Nun, dem wird sich abhelfen lassen.
Mir wird schon etwas einfallen. Ich schenke mir – wie allabendlich – ein Gläschen Rotwein ein und lasse mich in Großmutters altem Lehnsessel nieder. Sie fehlt mir sehr, mein großes Vorbild, meine Lehrmeisterin in Haushaltsdingen. Ich lehne mich zurück und lasse wehmütig die Erinnerungen kommen.
„Na! Hast du wieder alles auf Hochglanz poliert?“, stichelt eine höhnische Stimme.
Ich schrecke auf. „Was? Wie ... was?“, stottere ich und verschütte die Hälfte des Weines auf meinem neuen Rock. Vor mir sitzt in einem ebensolchen Sessel wie ich, eine Frau, die mir völlig fremd ist. Wie kommt die denn hierher?
„Hast wieder alles abgestaubt und blank gerieben! So ein Quatsch! Morgen ist es eh wieder staubig!“
„Na hören Sie mal"“ Ich bin mehr als erstaunt. "Wer sind Sie denn? Und wie kommen Sie überhaupt hier rein?“
„Haha!“ Die Frau lacht ironisch. „Hast die Tür einen Spalt offen gelassen, was? Wer hätt’s gedacht? Prost, Hilde!“
Die Worte ergeben keinen Sinn und ... überhaupt ... woher kennt sie meinen Namen? „Ich wüsste nicht, wann ich Ihnen erlaubt hätte, mich zu duzen ...“, beginne ich, doch die andere unterbricht mich.
„Erlaubt! Wer kümmert sich um das, was erlaubt ist! Ich scher mich ‘nen Dreck drum, Hildchen, ich tu, was mir Spaß macht! Solltest du auch mal probieren, Hildchen! Fang doch gleich mal beim schönen Lothar an, haha!“
Mir wird ganz kalt. Lothar! Woher weiß diese unangenehme Frau vom tiefsten Geheimnis meines Herzens? „Ich fange gar nicht an“, antworte ich abweisend, „Lothar muss sich erklären, dann ...“
„Ha! Erklären!“, unterbricht mich das widerwärtige Weib erneut, „da kannst du lang warten! Nimm dir, was du willst, sonst gehst du leer aus. Aber du weißt ja nicht mal, was du willst, du arme Sau, du weißt nur, was andere wollen. Hau mal auf den Tisch, brüll mal ganz laut: ‚Scheiße‘ ...!“
Diesmal bin ich es, die unterbricht: „Also, ich muss doch sehr bitten!“
„Dann bitte! Bitte mich, dir zu sagen, worauf es wirklich ankommt. Damit du endlich aus dem Reich der Toten ins Leben findest, armes Wesen du!“
Eine Gänsehaut kriecht mir den Rücken hoch. Was ist das? Was geschieht hier? Und langsam macht sich ein Gefühl in mir breit, welches mir so fremd ist, dass ich einen Moment brauche, um es zu erkennen: Wut! Ich werde maßlos wütend! „Schweig still!“, schreie ich mit einer Stimme, die mir selbst ganz neu ist. „Was hast du dich in mein Leben einzumischen?“
„Holla!“, grinst mein Gegenüber, „bei Hildchen bewegt sich was!“ Die andere hebt das Glas und prostet mir zu.
Da tue ich etwas, wozu in der Lage zu sein ich bisher strikt bestritten hätte: Ich hebe mein halbvolles Glas und werfe es der anderen ins Gesicht, das plötzlich zärtlich lächelt, bevor es in tausend kleine Splitter zerspringt. Erschrocken starre ich um mich. Ich bin allein. Da sind kein Sessel und kein Gast, niemand ist da. Nur ich. Und ein Berg kleinerer und größerer Splitter zu meinen Füßen; die Splitter meines Glases und die des großen Spiegels über dem Kamin. Ich wische mir mit der Hand übers Gesicht, als entfernte ich eine Spinnwebe. Dann gebe ich mir einen Ruck und stehe auf. Für einen Moment denke ich an den Staubsauger, doch nur für einen Moment. Ich lasse die Splitter liegen und gehe zu Bett. Morgen ist auch noch ein Tag.

Rosemai M. Schmidt